»Es gibt Tage, da hasse ich diese Stadt …«

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Thorsten Nagelschmidt
(Foto: Verena Brüning)

Thorsten Nagelschmidt alias »Nagel« ist vielen bekannt als Sänger, Texter und Gitarrist der Band »Muff Potter«. Vier Bücher hat er bereits veröffentlicht – sein Erstling von 2007 trägt den Titel »Wo die wilden Maden graben«. Der Wahlberliner widmet sich in seinem fünften Roman, der den schlichten Titel »Arbeit« trägt, dem Nachtleben der Weltstadt und eben jenen Menschen die, wenn andere Party machen, ihren Job erledigen. Wir sprachen mit ihm …

»Arbeit« gibt einen Einblick in das Leben von 13 Hauptfiguren aus Berlin, darunter eine Notfallsanitäterin, eine Pfandsammlerin, ein Drogendealer, ein Türsteher, ein Taxifahrer und ein Hostelangestellter. Welche Figur ist dir besonders nah und warum?

Cover: S. Fischer Verlage

Thorsten Nagelschmidt: Ich mag sie alle. Wirklich. Gerade auch die, die mir aufgrund biografischer Merkmale vielleicht erstmal nicht so nahe erscheinen. Interessanterweise machen sich diese Merkmale für mich aber nicht nur an Alter, Herkunft und Geschlecht fest. Mich in eine 25-jährige Essensauslieferin aus Kolumbien hineinzuversetzen fiel mir sogar leichter, als der Gedankenwelt eines 55-jährigen Taxifahrers aus Ostberlin gerecht zu werden — obwohl der doch wie ich deutsch, weiß und männlich ist. Ich glaube, dass den momentanen identitätspolitisch geprägten Debatten oftmals eine schwierige und kontraproduktive Denkweise zugrunde liegt, weil dabei Kategorien der Rechten übernommen werden. Die Hauptunterschiede bestehen meiner Meinung nach nicht in Merkmalen von Herkunft oder Geschlecht, sondern in sozialen Fragen wie denen von Milieu- und Klassenzugehörigkeit und der darauf beruhenden Ausgrenzung.

Im September starb David Graeber, Autor des Buches »Bullshit Jobs«. Seine These: bis zu 40 Prozent der Arbeit, die heute in den westlichen Industriegesellschaften getan wird, sei überflüssig, also: Bullshit. Spielen solche Überlegungen auch in »Arbeit« eine Rolle?

Nagelschmidt: Ich habe »Bullshit Jobs« mit viel Gewinn gelesen und bin erschüttert über den frühen und plötzlichen Tod Graebers. Aber auch wenn Arbeitsbedingungen und Bezahlung oft schwierig sind, empfinden die Figuren in meinem Buch ihre Tätigkeiten nicht als Bullshit jobs nach Definition Graebers. Denn egal, ob Sanitäterin oder Pfandsammlerin, ob Drogendealer oder Polizist — diese Menschen fühlen sich gebraucht, ihre Dienstleistungen werden nachgefragt und sie übernehmen zusätzlich oft noch sozialarbeiterähnliche Aufgaben, wenn sie das Gefühl haben, sich nebenbei um deren Zipperlein kümmern zu müssen. Thematisiert werden diese Widersprüche bei der Figur Anna, die als eine Art Klassenflüchtling nach unten ihren gutbezahlten Job in einer Agentur gekündigt hat, um einen Späti aufzumachen, weil sie lieber bis an ihr Lebensende Bier und Kippen verkauft, als Menschen Dinge anzudrehen, die sie gar nicht brauchen.

Ein Kapitel handelt auch von einer arabischen Großfamilie. Wir erleben Berlin aus der Sicht eines arabischen Jungen. Wie bekommt man Zugang zu dieser Sichtweise? 

Nagelschmidt: Man muss hinschauen, zuhören, mit Menschen reden und viel lesen. Und dann schauen, wie man Klischees vermeidet oder, noch besser, sich Klischees bewusst wird und mit ihnen spielt. Bei dem angesprochenen Kapitel habe ich es schließlich mit einer Art Kunstsprache probiert, einem selbst erfunden Slang à la »Clockwork orange«, weil alles andere, selbst wenn es noch so korrekt oder authentisch war, immer wie recherchiert oder im Moment des Niederschreibens schon von gestern klang.

Du schreibst immer direkt aus der Perspektive deiner Protagonisten. Wie authentisch fühlst Du dich in die Charaktere ein?

Nagelschmidt: Ich habe mich für die sogenannte Camera-Eye-Technik entschieden. Wir sehen, hören und fühlen immer nur das, was der jeweilige Protagonist sieht, hört und fühlt. Da viele Figuren in den Kapiteln der anderen wieder auftauchen, muss man als Leser ständig sein bisheriges Urteil hinterfragen oder revidieren. Zumindest war das die Idee. Ich will, dass meine Figuren nicht nur glaubwürdig sind, sondern interessant. Dazu braucht man vielschichtige Charaktere, die Brüche haben und Spleens und einen jeweils ganz eigenen Duktus und Habitus. Und das Ding mit der Authentizität — dieses Gefühl ist für einen Roman wie »Arbeit« natürlich wichtig. 

Wie stehst Du selbst zu Berlin?

Nagelschmidt: Es gibt Tage, da hasse ich diese Stadt, oder zumindest meinen Stadtteil, Neukölln. Den Dreck, den Lärm, die Aggressionen im Straßenverkehr, die zynische Arm-aber-sexy-Konsumentenmentalität von sogenannten Hipstern und Touristen. Andererseits ist in Berlin immer noch einiges möglich, das in London, Paris oder New York schon längst nicht mehr geht. Und wo soll man denn sonst leben.

Als Autor kannst Du mit einem (Recherche)Auftrag fremde Menschen kennenlernen. Bist Du als Privatperson auch so frei, auf andere Personen zuzugehen?

Nagelschmidt: Nein, leider nicht. Ich hätte viele der Personen, mit denen ich für diesen Roman gesprochen habe, unter normalen Umständen nie kennengelernt, obwohl wir vielleicht täglich aneinander vorbeilaufen. Von daher war die Arbeit auch für mich persönlich eine wahnsinnige Bereicherung. Ich habe viel gelernt und blicke jetzt anders auf die Stadt und auf die Welt.

Danke für das Gespräch.

Thorsten Nagelschmidt — Lesung
01.11.2020, Franz Mehlhose