Jedes Türchen ein Pläsierchen: Der Stadtmagazin 07-Adventskalender –

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Sie brauchen dieser dunklen Tage mal wieder frische Lektüreideen? Wissen wieder einmal nicht, was verschenken an Weihnachten? Ein Buch geht immer – und Vorschläge haben wir reichlich. Bis zum 24. Dezember öffnen wir hier täglich ein weiteres Türchen, um Ihnen eines jener Bücher mit dem besonderen Etwas vorzustellen, die dieses Jahr das Licht der Welt erblickt haben. Kommen Sie mit uns auf Adventslese – möglicherweise werden Sie ja fündig. Hinter Türchen Nr. 14 zum Vorschein kommt:

Annie Ernaux: »Das Ereignis«

Annie Ernaux: „Das Ereignis“
Bibliothek Suhrkamp, 104 Seiten (geb.)

Schonungslose Selbsterkundung

Spätestens seit Erscheinen ihres autobiographischen Romans „Die Jahre“ (2017) zählt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux (geb. 1940) auch im deutschsprachigen Sprachraum zu den meistgelesenen Autorinnen der Gegenwart. Und hat mit dem Suhrkamp Verlag eine Buchschmiede gefunden, die ihre Fans kontinuierlich mit weiteren ‘Bausteinen‘ ihres vielbändigen literarischen Gesamtwerks versorgt. Nach „Die Scham“ (2020) folgt nun erstmalig auf Deutsch: „Das Ereignis“. In dem bereits im Jahr 2000 im Original erschienenen Roman lässt Ernaux ein Ereignis vor ihrem inneren Auge auferstehen, das sich Jahrzehnte zuvor als allumfassendes Schockerlebnis tief in ihr Seelenleben gegraben hat. Im Oktober 1963 bemerkt die zu diesem Zeitpunkt 23-jährige Annie, dass sie schwanger ist. Ungewollt, ganz und gar nicht gewollt. Für sie, die Tochter einer Arbeiterfamilie, die es trotz ihrer ‘Unterpriviligiertheit‘ bis an die Universität geschafft hat, stellt dieses Ereignis ihre gesamte Zukunft in Frage. Abtreibungen sind zu diesem Zeitpunkt nicht nur ein gesellschaftliches Tabu, sondern auch gesetzlich verboten, Ärzten jede Hilfeleistung mit Strafandrohung untersagt. In ihrer Überforderung, mittellos und ohne eine Menschen, dem sie sich anzuvertrauen vermag, irrt Annie von Arztpraxis zu Arztpraxis, versucht erfolglos selbst abzutreiben, vertraut sich irgendwann einer ‘Engelmacherin‘ an, endet schließlich in der Notaufnahme…

Erst 37 Jahre später ist die „Ethnologin ihrer selbst“, wie Annie Ernaux sich selbst bezeichnet, imstande, sich jenem Ereignis und den traumatischen Folgen wie auch den Versehrungen, gesellschaftlichen Demütigungen und Stigmatisierungen, die damit einhergingen wieder zu nähern. Und es ist trotz (oder gerade wegen) der ihr so eigenen, nüchtern-trockenen, sehr präzisen Erzählweise ergreifend mitzuerleben, wie sie das Geschehen von damals, das ihr ganz offensichtlich auch fast 40 Jahre später immer noch zusetzt, nun mit gereifterem Blick und in einem geweiteten Kontext, neu aufleben lässt, um es in einem Akt schonungsloser Selbsterkundung endlich mit all jenen persönlichen Gefühlen zu besetzen, die es ihr seinerzeit nicht möglich war, zum Ausdruck zu bringen.

„Das Ereignis“ ist ein weiterer wichtiger Baustein in Annie Ernaux‘ breit angelegter biografischer Spurensuche, der in seiner befreienden Vereinigung von Erinnerung und Reflexion eine berührende, intensive Lektüre offenbart. Auf weitere Erstübertragungen ihrer Texte ins Deutsche darf man hoffen.