Teil 1: Eine verunglückte Bühnenkarriere
IM DEUTSCHLAND DES JAHRES 1866 GAB ES LANDAUF, LANDAB eigentlich nur ein großes, die Schlagzeilen bestimmendes Thema: die wachsenden Spannungen zwischen Preußen und Österreich. Diese sollten noch binnen Jahresfrist zum Ausbruch des Deutschen Krieges und, damit einhergehend, zu einer Neuordnung der bestehenden geopolitischen Landkarte Europas führen. Es waren erstaunlicherweise jedoch nicht die neuesten politischen Entwicklungen, die das Volk in allen Landesteilen an jedem Freitag aufs Neue zu den nächstgelegenen Zeitungsständen und –kiosken eilen ließ, sondern das Erscheinen der »Gartenlaube«. Schließlich würde die neue Ausgabe jener beliebten Wochenzeitschrift endlich das ersehnte nächste Kapitel der »Goldelse« offenbaren. Jenes Romans, der bereits seit Beginn jenes krisenhaften Jahres häppchenweise und stets überaus lese-appetitanregend abgedruckt wurde – und garantiert auch dieses Mal erneut in einem aufwühlenden, geradezu ›unerträglichen‹ Spannungsmoment enden würde. Die Verfasserin jenes überaus beliebten Fortsetzungsromans: eine öffentlichkeitsscheue Frau aus dem thüringischen Arnstadt, die mit ihren unter dem Pseudonym »E. Marlitt« veröffentlichten Romanen und Novellen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Millionenpublikum um sich scharte und zu einer der ersten international erfolgreichen Bestseller-Autorinnen erwuchs – zuvor jedoch einen langen Weg der Selbstfindung beschreiten musste. Die Geschichte der Eugenie John.
Ein Mädchen mit glockenheller Stimme
Vom Glück gestreift nennen darf sich, wer nicht nur ein Talent hat, sondern auch Gelegenheit findet, dieses zur Entfaltung zu bringen. Bei Friederike Henriette Christiane Eugenie John scheint dieses sich zunächst wie von ganz allein einzufinden – obgleich es nicht die Muse der Dichtkunst ist, von der sie sich zunächst geküsst fühlt.
Einen Tag vor Nikolaus im Jahre 1825 zur Welt gekommen, wächst Eugenie als zweitgeborene Tochter der Arnstädter Kaufmanns-Eheleute John in zwar durchaus bescheidene, aber keineswegs bekümmerte bürgerliche Verhältnisse hinein, die vor allem durch eines geprägt erscheinen: eine stete Nähe zur Musik. Gefördert von ihren den schönen Künsten sehr zugewandten Eltern wird Eugenie wie auch ihren vier Geschwistern das regelmäßige Üben am Klavier während Kindheit und Jugend ebenso schnell zur Normalität wie die Fertigkeit des Notenlesens und das Singen im Chor.
Dort, im Schulchor, ist es auch, wo ihr musikalisches Talent erstmals deutlich zutage tritt: Die glockenhelle Stimme der ›kleinen John‹ tönt stets so klar und wohlklingend aus dem allsamstäglich auftretenden Chorensemble hervor, dass der Musiklehrer sich in seiner Begeisterung über die stimmliche Begabung des Mädchens schließlich an deren Eltern wendet, um diese davon zu überzeugen, ihrer Tochter eine musikalische Ausbildung zu ermöglichen. Viel Überzeugungsarbeit muss er nicht leisten. Die Johns sind sofort angetan von der Idee, Eugenie zu einer Musikerin – ja, vielleicht sogar zu einer richtigen Kammersängerin ausbilden zu lassen, mit der Aussicht, irgendwann einmal an den größten Opernhäusern Europas als Primadonna aufzutreten. Nur, so groß die Träume, so klein und bescheiden erweisen sich die finanziellen Mittel der Familie: Das für eine solche Ausbildung erforderliche Geld ist im Hause John seit dem Bankrott des väterlichen Kaufmannsladen wenige Jahre zuvor schlichtweg nicht mehr vorhanden. Vielmehr muss die Familie mittlerweile bei allem, was mit Ausgaben einhergeht, den Gürtel enger schnallen.
Hoffen darf Eugenie dennoch. Denn in dem Wissen, dass sich Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen, die Herzogin ihres kleinen thüringischen Fürstentums, zu dem auch Arnstadt gehört, schon mehrfach als großzügige Förderin der Künste erwiesen hat, wendet sich der Vater mit einem Bittgesuch an die Fürstin: Ob es dieser denn nicht möglich sei, sich seiner musikalisch überaus begabten Tochter an ihrem Hofe anzunehmen? In der Tat lässt die kunstliebende Herzogin mit einer Antwort nicht lange auf sich warten. Wenige Tage später erscheint ein Musikant ihres Hofstaats, um den gepriesenen ›Singvogel‹ einer Talentprobe zu unterziehen und ja, tatsächlich trifft die 16-jährige sofort jeden Ton, den er auf dem Spinett anschlägt. Mehr noch, er erkennt, dass Eugenie offenbar über ein Stimmvolumen verfügt, das schon unausgebildet von beeindruckendem Umfang ist – und unter entsprechender Schulung und Anleitung ohne Zweifel zu voller Pracht und Entfaltung gebracht werden kann.
Also zieht Eugenie um – ihrem Glück entgegen. Ab 1841 wird ihr am Sondershäuser Fürstenhof eine umfassende musikalische Ausbildung gewährt, für deren Kosten Herzogin Mathilde allumfassend aufkommt. Überhaupt wird Eugenie schnell zum persönlichen ›Liebling‹ der kunstsinnigen Fürstin, die ihrem Schützling keinen noch so großen Wunsch versagt, dieser schließlich sogar zusätzlich zu den 1844 beendeten drei Lehrjahren noch eine zweijährige Weiterbildung zur Opernsängerin in Wien schenkt.
Traum und Wirklichkeit
Wien! Welt- und Kaiserstadt! Zentrum der deutschen Musik! – Eugenie kann kaum fassen, von welchem Glück ihr Lebensweg gesäumt ist. Noch Jahrzehnte später wird sie von jenen Jahren am Wiener Konservatorium als der Zeit ihres Lebens schwärmen. Alles scheint hier genau so in Erfüllung zu gehen wie von ihr erträumt. Eugenie John – jung, wohlerzogen und durchaus gut aussehend, voller Tatendrang und mit einer erstklassigen Gesangsstimme gesegnet, ist bereit, die Opernbühnen des Landes, vielleicht auch ganz Europas im Sturm zu erobern.
Doch es sollte anders kommen. Bereits ihr erster öffentlicher Auftritt als ausgelernte ›Fürstliche Schwarzburgisch-Sondershäuser Kammersängerin‹ an der Leipziger Oper im Frühjahr 1847 gerät zum Beinahe-Fiasko. Eine geradezu übermächtige Bühnenangst und Aufregung rauben der jungen Debütantin nahezu vollständig die Fähigkeit, ihre Stimme, ihr Talent, ja, all das über Jahre hinweg Erlernte und Antrainierte auch nur ansatzweise überzeugend ins Publikum zu tragen. Verkrampft und wie gelähmt steht sie auf der Bühne, ist dank eines zu dünnmaschig gestrickten Nervenkostüms kaum imstande, einen Ton über die Lippen zu bringen, der nicht wie ein Krächzen klingt.
Zur großen Pein der ambitionierten Sängerin sollten daran auch sämtliche nun bemühten Versuche, sich im vertrauten Umfeld der heimatlichen Sondershäuser Hofbühne mehr Gelassenheit und Routine anzutrainieren, kaum etwas ändern. Egal, ob in Wien, im tschechischen Olmütz, in Krakau oder Lemberg – wo auch immer sie in den Folgejahren ein Engagement als Opernsängerin erhält, ist es jedes Mal der gleiche wortwörtliche Krampf: Sobald sie vor das Publikum tritt, überwältigt sie eine geradezu lähmende Bühnenangst. Die ihr schließlich so zusetzt, dass sie obendrein auch noch immer wieder in den Phasen größter Anspannung ihr Gehör verliert. Vorübergehend, ohne erkennbare physische Ursache, dafür mit fataler Wirkung. Ohne dieses singend den richtigen Ton zu treffen vermochte Eugenie John beim besten Willen nicht. Sämtliche Ärzte, die sie konsultiert, versichern ihr, die plötzlich auftretende Taubheit würde sich wieder geben und sie auch ihren normalen Hörsinn wiedererlangen können – wenn sie denn bereit wäre, den ihr offenbar zu stressigen Beruf aufzugeben.
Schweren Herzen und der dauerhaften Qualen leid, gesteht sich die unglückliche Sängerin zu guter Letzt doch ein, trotz allen Talents, trotz aller Träume und trotz aller Ambitionen einfach nicht für die Bühne gemacht zu sein und verlässt diese 1853 endgültig. Doch was soll sie stattdessen machen?
Glück und Unglück
Antwort findet Eugenie erneut bei ihrer Gönnerin, Herzogin Mathilde: Mittlerweile von ihrem Fürsten-Gemahl geschieden und mit geschrumpften Hofstaat im Schloss ihrer Eltern im württembergischen Öhringen untergekommen, stellt diese die von ihr so viele Jahre geförderte bühnenscheue Sängerin als persönliche Gesellschafterin ein. Fortan weicht Eugenie John der Fürstin nicht mehr von der Seite, ist ihr zugleich Sekretärin und Verwalterin, Ratgeberin und Vorleserin, begleitet sie als Mädchen für alles auf ihren Reisen und lernt als Bürgerliche das Leben in adligen Kreisen allumfassend kennen. Der Preis dafür: völliger Verzicht auf ein Privatleben und/oder eine eigene Familie. Doch Eugenie John fügt sich klaglos in ihr Schicksal, schon allein, weil sie sich in der Schuld Mathildes fühlt, die ihr die Ausbildung zur Kammersängerin einst überhaupt erst ermöglicht hatte.
Nichtsdestotrotz wird Eugenie John das Angestelltenverhältnis im Laufe der nachfolgenden Jahre zu einer zunehmenden Belastung. Zum einen, weil sie fortwährend den Launen und Unpässlichkeiten ihrer Dienstherrin ausgesetzt ist, die unter offenbar sich stetig verschlimmernden Depressionen leidet. Zum anderen, weil sich in unmittelbarer Folge dadurch auch ihr eigenes stressbedingtes Hörleiden wieder verschlimmert. Und schließlich auch, weil sich in ihren Gliedmaßen, vor allem in den Beinen, ein schleichendes, übles, rheumatisches Leiden festgesetzt hat, welches sie für den Rest ihres Lebens empfindlich einschränken sollte.
Als das Arbeitsverhältnis 1863 im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst wird, ist dies für Eugenie John daher Erleichterung und Ernüchterung zugleich. Zwar fühlt sie sich nach zehn Jahren in Diensten der Fürstin endlich befreit vom ›unfreien‹ Dasein einer Rund-um-die-Uhr-Gesellschafterin, gleichzeitig kehrt sie nunmehr bereits 38-jährig als vermeintlich ›Gescheiterte‹ nach Arnstadt, ihre alte Heimatstadt, zurück. Also nicht nur arbeits-, sondern auch mittel-, ruhm- und kinderlos, überdies unverheiratet und dauerhaft kränklich. Wie sich schon bald zeigt, hat Eugenie John jedoch keineswegs vor, darüber zu verzweifeln und den Kopf in den Sand zu stecken, vielmehr ziemlich klare Vorstellungen, welchen Kurs ihre persönliche Zukunft einschlagen soll. Denn längst hat sie ein neues Talent in sich entdeckt, das keiner Stimme und auch keiner großen Bühne bedarf, dafür jede Menge Potenzial in sich birgt, ihr doch noch zu persönlicher Erfüllung zu verhelfen: das Schreiben.
Wie es Eugenie John doch noch gelingt, das Glück im Unglück zu finden und sich binnen weniger Jahre in die international bekannte Bestseller-Autorin E. Marlitt zu verwandeln, erfahren Sie im zweiten Teil des Artikels.