Langanhaltende Niederschläge oder heftige Unwetter, die eine Überschwemmung ganzer Landstriche nach sich ziehen, sind auch in Thüringen nicht unbekannt. Zuletzt sorgte hier vor fünf Jahren ergiebiger Dauerregen für Flüsse, die aus ihren angestammten Betten quollen und in der Folge zu gefluteten Kellern, Straßen und Feldern führten. Der Schaden, den jenes Hochwasser entlang von Werra, Saale, Ilm, Gera und Co. mit sich brachte, war immens – blieb jedoch zum Glück weit hinter jener Naturkatastrophe zurück, die die Region vor etwas mehr als 400 Jahren ereilte und als „Thüringer Sinftlut“ Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat.
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Bereits viele Monate hatte der Tüngedaer Schuldiener Johann Binhard an der Erstellung seiner „Thüringischen Chronica“ gesessen. Mit großem Fleiß hatte er darin die Lebensdaten vergangener Thüringer Fürsten und Grafen zusammengetragen, hatte zahllose kleine oder große Ereignisse der letzten Jahrhunderte aus den Städten und Dörfern des Landes aufgeführt und jede überlieferte Brandkatastrophe, jede Pestepedimie, jede Missernte und jede außergewöhnliche Witterungserscheinung in der Region mit entsprechender Aufmerksamkeit bedacht. Nun im Frühjahr 1613 war sein ‘Geschichts- und Zeitbuch‘ endlich in der Gegenwart und damit auch an seinem Ende angelangt. Doch nachdem am 29. Mai ein Unwetter wie eine Urgewalt über große Teile Thüringens hinweg gezogen war, blieb dem beflissenen Chronisten nichts anderes übrig, als seinem Werke noch ein weiteres Kapitel hinzuzufügen. „[A)ls wenn die Welt abermals durch eine Sündflut untergehen wollte“, hatte sich dieses angelassen, „schrecklich tobet, wütet und wallet das wilde Wasser, giengen die Elementa so durcheinander, daß, was im Wasser zu sein pflegte, gieng auf dem Lande, und das nicht an einem Ort, sondern in gantz Thüringen.“
Wie heute erwiesen ist, schlug Binhard zwar ein wenig über die Strenge, wenn er ganz Thüringen an jenem Tag unter Wasser stehend gesehen haben will – verheerend war die Naturkatastrophe jedoch allemal: an die 700 Thüringer verloren in der Nacht vom 29. zum 30. Mai ihr Leben, Hunderte verloren Dach, Hab und Gut, mehrere Tausend Stück Vieh ihr Leben.
Neben den Ausführungen des Tüngedaer Chronisten stammen die ausführlichsten Augenzeugenberichte über die katastrophalen Auswirkungen des Mai-Unwetters aus dem damaligen Herzogtum Sachsen-Weimar: In eigenen ‘Wetterpredigten‘ hatten sowohl der Jenaer Theologieprofessor Johannes Major als auch der Weimarer Oberhofprediger Abraham Lange ihre persönlichen Eindrücke jener Schreckensnacht festgehalten.
Hagelkörner groß wie Hühnereier
Abraham Langes Schilderungen zufolge hatte der 29. Mai feucht-warm, aber freundlich begonnen, sich ab Mittag dann jedoch „an allen Orten des Himmels“ Wolken übereinander aufgetürmt, „biß endlich der gantze Himmel damit eingenommen ward und immer ein Gewölck über das andere her waltzte.“ Drückend schwül war es nunmehr geworden, kein Lüftchen wehte mehr – während ringsum Weimar eine unheimliche Stille um sich griff. Erfüllt von Vorahnungen verließen die Bauern die Felder, während in den Gassen der Stadt die Leute sorgenvoll gen Himmel blickten, der sich angesichts der stetig wachsenden Ambosswolken zunehmend verdunkelte. Um das aufziehende Unwetter von der Stadt fern zu halten, ließ der Bürgermeister zwar noch die Wetterglocken läuten, nützen wollte es allerdings nicht: Ab 16 Uhr folgte im tiefhängenden Himmelszelt ein Donnerschlag dem nächsten, parallel dazu stob eine Windbö nach der anderen durch die Gassen. Nur regnen wollte es noch nicht.
Kurz nach 17 Uhr brach es dann doch hervor – erst vereinzelt, dann immer mehr: massiver Hagelschlag. Wie Lange berichtete, „erhub sich […] in den Wetterwolcken ein gewaltiges brausen, welches das immerwehrende Donner noch schrecklicher machete wegen des befahrenden Hagels.“ Stellenweise habe der Hagel um Weimar „an die 5. Stunden angehalten und seynd die Schlossen [also die Hagelkörner] in ungewöhnlicher Form und Größe gefallen. Hagelkörner offenbar so groß wie Hühnereier brachten Dachschindeln zum Bersten, ließen Fensterscheiben zerspringen, zerschlugen die Felder und erschlugen das Vieh während der Sturmwind ganze Dächer emporhob und mit sich hinfort führte.
Stunden früher als sonst versank dieser Maitag unter dem fortwährenden Rauschen und Dröhnen des sich entladenden Unwetters in Dunkelheit. Nur die stetig herabfahrenden Blitze beleuchteten grell, was der Gewittersturm bereits an Schaden angerichtet hatte – ebenso jenes Unheil, das nun auf die Dorf- und Stadtbewohner zukam. Denn da der Boden das in großen Mengen herabfallende Wasser schon nach kurzer Zeit nicht mehr aufnehmen konnte, lief dieses alsbald von den erhöht liegenden Wiesen, Feldern und Wegen in das tiefer gelegene Weimar und die umliegenden Dörfer herab. Kleine lokale Gräben und Bäche wie der Wilde Graben, der Possen- oder der Hengstbach, in denen sonst nur Rinnsale flossen, verwandelten sich jetzt in wild wirbelnde Ströme, die mit unbändiger Kraft in die Gassen der Residenzstadt hineinströmten und alles mitrissen, was sich ihnen in den Weg stellte.
Weimar unter Wasser
Das die Weimarer Altstadt zum Norden hin begrenzende Jakobstor konnte zwar noch geschlossen werden, durch das Frauentor im Osten und das Erfurter Tor im Westen drang das wilde Sturzwasser jedoch ungehindert in die Stadt ein, brachte Schlamm, Geröll, entwurzelte Bäume und diverses Treibgut mit sich, füllte im Nu Kellerräume und Hausflure, brachte ganze Häuser, Scheunen und Ställe zum Einsturz und ertränkte alles Leben, das sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnte. Als gegen 22 Uhr der Regen nachzulassen schien, schöpften die von der über sie so urplötzlich hereingebrochenen Wetterkatastrophe gepeinigten Weimarer kurzzeitig die Hoffnung, es nun überstanden zu haben. Doch nach einer Stunde setzte das offenbar am Ettersberg festhängende Unwetter erneut mit heftigem Starkregen ein.
So stark staute sich das zusammenströmende Wasser daraufhin in den Gassen, dass der Pegel am Frauentor, wo das meiste mitgeführte Treibgut im Torbogen stecken blieb, angeblich bis zu dem eben dort in gut neun Meter Höhe eingelassenen Marienbild gereicht haben soll. Am zur Ilm hinabführenden Kegeltor wiederum machte die Wasserflut gar nicht erst Anstalten, die Toröffnung zu passieren, sondern überspülte dieses gleich komplett, um sich hiernach in die längst aus ihrem normalen Bett getretene Ilm zu ergießen.
Präsentierten sich bereits jene Wasserläufe, die sonst als Graben oder Bach galten, infolge des Unwetters als reißende Gewässer, so war die Ilm in jener Schicksalsnacht innerhalb weniger Stunden zu einem uferlosen Strom geworden, der anschwoll und anschwoll – letztlich sieben Meter über dem normalen Pegel – und alles verschlang, was in seine Reichweite gelangte. Das unmittelbar an der Ilm gelegene Weimarer Schloss stand folglich schon wenige Stunden nach Beginn der ‘Sintflut‘ unter Wasser. Der Überlieferung zufolge hat die herzogliche Herrschaft selbst wohl keine nassen Füße bekommen, wie Pfarrer Lange berichtete, war jedoch „das schlammige Wasser nicht allein in die Keller, sondern auch in die Gewelbe biß ans Brot und Brieffgewelbe gangen.“ Letzteres erwies sich im Nachhinein als durchaus prekär, wurden in jenem „Brieffgewelbe“ doch die wichtigsten Papiere des Herzogtums gelagert – u.a. auch all jene Akten und Urkunden, die Besitzverhältnisse bzw. deren Ansprüche dokumentierten. Wie sich herausstellte, konnte jedoch ein Großteil der Unterlagen „an der Lufft und Sonnen wieder trocknen“.
Zerstörte Landstriche
Zunächst ging es für die besonders vom Unwetter Betroffenen jedoch erst einmal darum, die Nacht zu überstehen. Nach stundenlangem Gewitter und Starkregen zog gegen 3 Uhr am Morgen endlich Stille am Himmel ein. Friedlichen Schlaf dürften in dieser Nacht indes nur die wenigsten Thüringer gefunden haben. Nicht wenige der vom Hochwasser überraschsten Ilm-Anwohner hatten die ganze Nacht über bis an den Hals im Wasser gestanden, waren – wenn sie denn noch standen – auf die Dächer ihrer Häuser oder nahe gelegener Bäume geklettert, während sie dabei zusehen mussten, wie ihr Hab und Gut von den Fluten davongetragen wurde.
Das gesamte Ausmaß der Katastrophe, die innerhalb eines Zeitraums von gut zehn Stunden über das Thüringer Land gekommen war, zeigte sich im anbrechenden Tages. Traditionell hätte an diesem Tag eigentlich das Trinitatisfest gefeiert werden wollen, doch den Thüringern war beim besten Willen nicht nach Feiern zumute. Was das Tageslicht zum Vorschein brachte, waren großflächige Spuren der Verwüstung. 44 Häuser und Scheunen hatte das Wasser allein in Weimar fortgerissen, allerorten lag einstiger Hausrat zerschlagen auf den kaum noch erkennbaren Straßen, ebenso zahllose verendete Nutztiere.
In nahezu allen Dörfern, die die Ilm säumten, hatte die nächtliche Flut Häuser, Scheunen, Viehställe, Wehre, Mühlen sowie Holz- und Steinbrücken mitgerissen. Da wo tags zuvor noch Äcker, Wiesen und Felder gewesen waren, bedeckten jetzt ellenhoch Schlamm und Geröll den gehegten Boden. Wie übel das Unwetter der Umgebung Weimars mitgespielt hatte, davon wusste Pfarrer Lange ebenfalls zu berichten: „Denn nicht allein fast alle Wiesen und Gärten [hat es] verschlemmet und verderbet, die köstlichen Obst-Bäume zerbrochen, geschelet, aus der Erden gerissen und alles mit Mist, Sand und Steinen überschüttet, das Getreydig in den besten Aeckern ersäufft, die Brach-Aecker der besten und trächtigen Erden also entblösset, das mancher einem Steinbruch ähnlicher siehet als einem Art-Acker, sondern es ist auch an Gebäuden, Menschen und Viehe ein trefflicher Schade geschehen. Das Gewässer ist den Leuten so plötzlich auf den Halß kommen, daß ihrer ein theils mehrlich ihr Leben als eine Beute davon bracht und das ander alles im Lauf lassen müssen.“
Auch wenn sich heute nicht mehr mit absoluter Genauigkeit angeben lässt, wieviele Leben genau die ‘Thüringer Sintflut‘ landesweit gefordert hat, lassen sich auf Grundlage verlässlicher Quellen zumindest die Opferzahlen für Weimar und Umgebung relativ genau eingrenzen: Demnach kostete die Unwetternacht allein in Weimar 65 Menschen das Leben, weiteren 27 in Oberweimar und Ehringsdorf. In der näheren Umgebung hatte Mellingen 22 Tote zu beklagen, Magdala und Kromsdorf jeweils 16, 25 Einwohner starben in Mattstedt, 18 in Krautheim und 20 in Maua bei Jena.
Noch zahlreiche weitere Opfer hatten die am Nordhang des Ettersbergs gelegenen Dörfern zu beklagen, ebenso zahlreiche Dörfer und Gemeinden um Kranichfeld und Bad Berka, weiterhin Dörfer und Stadte im Raum Mühlhausen und Langensalza, im Kreis Sömmerda, an der Hainleite und an der Saale, wo es überall zu ähnlich sprunghaften nächtlichen Überflutungen gekommen war. Wilhelm von der Lage, der 100 Jahre nach der Katastrophennacht das bislang umfassendste Werk zur ‚Thüringer Sintflut‘ veröffentlichte, kommt in seiner gut recherchierten Auflistung auf eine Gesamtzahl von 586 Flutopfern. Mit einem noch umfassenderen Blick geht man heute davon aus, dass jene Überflutungen vom 29. Mai 1613 insgesamt etwa 700 Tote nach sich gezogen haben.
Auch wenn Thüringen in den nachfolgenden Jahrhunderten noch so manch anderes Hochwasser mit nicht minder katastrophalen Folgen zu überstehen hatte, ist jene Sintflut vom 29. Mai 1613 aufgrund ihrer drastischen Vehemenz im kollektiven Gedächtnis haften geblieben. Vielleicht auch als Mahnung. Denn auch wenn wir heutzutage andere Möglichkeiten haben, Hochwasser zu begegnen, ist eines gewiss: die nächste Katastrophe kommt bestimmt.