Auch wenn Edvard Munch anders als manch Künstlerkollege bereits zu Lebzeiten europaweite Berühmtheit erlangte, hatte der norwegische Maler einen langen, steinigen Weg zu gehen, bevor man ihn als epochemachenden Bahnbrecher und Neuschöpfer in der Malerei der Moderne anerkannte. Dieser von zahlreichen inneren Konflikten begleitete Weg führte ihn unter anderem auch ins selbstgewählte ›Exil‹ nach Deutschland – in dessen grünen Herzen er einen besonderen Ort der Erholung und Inspiration vorfand.

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DUNKELHEIT WAR EINE KONSTANTE SEINES LEBENS: Edvard Munch im Selbstbildnis mit Zigarette, 1895
Bild: Wikipedia

Als Edvard Munch um den 17. März 1904 herum erstmals nach Weimar kam, hatte er schon gut und gerne ein Drittel der insgesamt 1789 Gemälde, die er zeitlebens anfertigen würde, geschaffen. Der Norweger war zu jener Zeit bereits ein bekannter Maler — aber noch ein ganzes Stück davon entfernt, jener weithin berühmte Künstler zu werden, um dessen Bilder sich Sammler und Kunstliebhaber bereits rissen, bevor die Farbe auf der Leinwand getrocknet war. Genaugenommen war Munchs Bekanntheit um die Jahrhundertwende im Wesentlichen auf einer Aura des Avantgardistischen, wenn nicht sogar des Skandalösen begründet: Denn entgegen der in der europäischen Kunst noch vorherrschenden naturalistischen Tendenz, welche die Erschaffung eines vornehmlich dem Auge schmeichelnden Werkes in den Vordergrund stellt, hatte Munch damit begonnen, sich in seinen höchst expressiven Bilderwelten auf eine Vereinfachung und Stilisierung des Motivs zugunsten einer symbolhaften Veräußerlichung innerer Zustände und Empfindungen zu verlegen — und damit bereits wiederholt für Ablehnung und Empörung in der Kunstwelt gesorgt. Fielen die Kritiken seiner Landsleute halbwegs zurückhaltend aus, wurden seine Bilder lediglich als »roh ausgeführte« und »halbfertige Entwürfe« bewertet und dem »durchaus talentierten« Künstler empfohlen, seinen Werken doch bitte ein dem Auge gefälligeres Erscheinungsbild zu verleihen. Waren die Urteile drastischer formuliert, wurde Munch auch schon einmal als »Humbugmaler« und seine Werke als Schmiererei, Verhöhnung oder Schweinerei bezeichnet.

Karriere in Deutschland

Auch im sonst so kunstinteressierten Deutschland zeigte man sich Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts zunächst nur wenig aufgeschlossen gegenüber Munchs unkonventioneller Malweise. Gleich die erste Einzelausstellung im Herbst 1892, zu der man den bislang unbekannten norwegischen Künstler nach Berlin eingeladen hatte, geriet zum Skandal. Die in den Räumlichkeiten des Vereins Berliner Künstler veranstaltete Bilderschau mit 55 Werken Munchs unterlief offenbar dermaßen vehement die Erwartungen all jener Vereinsmitglieder, die sich mit modernistischen Tendenzen in der Malerei etwas schwer taten, dass bereits der Tag der Ausstellungseröffnung in einer handfesten Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Kunst Munchs endete und selbige aufgrund der anhaltenden Proteste über diese »anarchistische Provokation« nach nicht einmal einer Woche wieder geschlossen werden musste. Der Eklat bedeutete für Munch jedoch keineswegs ein verfrühte Ende seines Künstlerdaseins auf deutschem Boden — ganz im Gegenteil: Die nun in der deutschen Medienlandschaft breit einsetzende Diskussion der »Affäre Munch« bewirkte, dass nicht nur über Nacht plötzlich ganz Deutschland seinen Namen kannte, sondern sich alsbald auch verschiedene Kunstvereine im ganzen Lande anboten, die ›schlagzeilenträchtigen‹ Bilder auszustellen.

Für Munch ein guter Grund, fürs Erste in Deutschland zu bleiben — und in den Folgejahren auch immer wieder für längere Schaffensperioden hierher zurückzukehren. Denn im Gegensatz zu Norwegen, wo man ihn weiterhin eher für einen malenden Sonderling als für einen wahren Künstler hielt, gelang es ihm hier tatsächlich alsbald, einen wachsenden Kreis an Sammlern, Freunden und Förderern um sich zu scharen, die seine Bilder kauften oder ihn als Auftragsmaler weiterempfahlen. Im Deutschland der Jahrhundertwende gelang dem Norweger das, was ihm all die vorangegangen Jahre verwehrt geblieben war: Seine Karriere nahm endlich an Fahrt auf und er konnte die prekären Lebensverhältnisse hinter sich lassen, von denen sein Künstlerdasein bislang immer wieder dominiert gewesen war.

Innere Konflikte

Rastlose Wanderjahre mit häufig prekären Lebensumständen und der ewige Kampf um Würdigung und Anerkennung seiner unkonventionellen, expressiven Malweise hatten bei dem sensiblen Maler allerdings mittlerweile deutliche Spuren hinterlassen. Munchs Wohlbefinden folgte auf geistiger wie auch körperlicher Ebene einem unverkennbaren Abwärtstrend: Neben einer seit Kindheitstagen gepflegten ›chronischen Sorge‹ um die Stabilität der eigenen Gesundheit und tatsächlich ständig wiederkehrenden ›Influenza‹-Erkrankungen, die ihn immer wieder für Wochen und Monate niederwarfen, war es vor allem seine unkontrolliert von einem Extrem ins andere wechselndes Gemütslage sowie eine ausgeprägte Alkoholsucht, die sich über die Jahre hinweg in seine Nerven hineingefressen hatten und ihm nun spürbar zusetzten. Darüber hinaus plagten ihn auch noch die Erinnerungen an eine aufreibende, mehrjährige Liebesbeziehung, die ihren Höhe- bzw. Endpunkt in einer obskuren Revolverszene gefunden hatte, bei der zum Glück ›nur‹ seine linke Hand in Mitleidenschaft geraten war …

Erster Weimarbesuch

»DORFPLATZ IN ELGERSBURG« (1905/06) entstand während Munchs erstem Kuraufenthalt in Thüringen
Bild: Wikipedia

In der Folge empfing Weimar an jenem Märztag im Jahr 1904 einen in mehrfacher Hinsicht angeschlagenen, nichtsdestotrotz aber auch motivierten Maler Edvard Munch. Eine Auftragsarbeit führte den Maler in die Stadt an der Ilm: Harry Graf Kessler — Aristokrat, Kunstsammler, Mäzen und zu diesem Zeitpunkt auch Leiter des Großherzoglichen Museums Weimar, den Munch bereits aus Berliner Tagen kannte, wollte sich von ihm porträtieren zu lassen. Über die Entstehung dieses Auftragsporträts, welches Munch als Brustbild vor einer hellen Bücherwand arrangierte und dem Grafen für 400 Mark überließ, ist allerdings wenig bekannt.

Anekdotisch überliefert ist hingegen, dass ihn die Begegnung mit einem alten Künstlerfreund, dem Maler und Grafiker Hermann Schlittgen, den er zufällig bei Graf Kessler begegnete, spontan zur Anfertigung eines weiteren Porträtbild inspirierte. Wie Schlittgen sich später in seinen Memoiren erinnert, erwartete ihn der Norweger im Weimarer Hotel »Elephant« — dort sollte er ihm Modell stehen: »Morgens zehn Uhr soll angefangen werden, ich erscheine pünktlich. Munch liegt noch im Bett. Er sieht seine Hände an und sagt: ›Ich bin noch zu nervös, muß mich erst beruhigen.‹ Er bestellte beim Kellner eine Flasche Portwein. ›Bitte kommen Sie in einer halben Stunde wieder.‹ Als ich zurückkehrte, war die Flasche leer. ›So, nun geht’s.‹ Er fängt an mich aufzuzeichnen, es ist so eng, daß er kaum zurücktreten kann. Nach jeder Sitzung mußten die Kellner das Bild in den Hof hinuntertragen, damit er die Fernwirkung beurteilen konnte. Am Gitter zur Straße standen die Weimarer und sahen zu.« Als das Porträt vollendet ist, hatte Munch seinen durchaus bodenständigen Künstlerkollegen zu dessen eigener Verwunderung in einen noblen Herren im Gesellschaftsanzug mit Zylinder verwandelt, den verschossenen Hotel-Bettvorleger, auf dem er stand, zudem in einen farbenprächtigen orientalischen Teppich — und war, so die Überlieferung, so zufrieden mit dem Ergebnis, dass er es zeitlebens zu seinen am besten gelungenen Männerbildnissen zählte.

Vermittelt durch Harry Graf Kessler lernt Edvard Munch während seines ersten Weimarbesuchs — er sollte insgesamt etwas mehr als vier Wochen bleiben — auch Elisabeth Förster-Nietzsche kennen, die den Kult um ihren berühmten Bruder vor Ort mit einem eigens begründeten Nietzsche-Archiv pflegte und umhegte. Eine offenbar fruchtbare Begegnung, die nicht nur eine Radierung des Hauptes der Nietzsche-Schwester hervorbringt, sondern auch den Boden für einen weiteren Besuch des norwegischen Malers in Thüringen bereitet: Elisabeth Förster-Nietzsche, angetan von Munchs Fähigkeit, überaus ausdrucksstarke Seelenzustände und Stimmungslandschaften zu malen, schwebte ein posthum angefertigtes, großformatiges Porträtbild ihres Bruders vor. Der Norweger, so ihr Wunsch, sollte dem Bildnis entsprechendes Leben einhauchen.

DER WEIMARER KUNSTLIEBHABER und Mäzen Harry Graf Kessler ließ sich gleich zweimal von Munch ›verewigen‹ — hier im Ganzkörperporträt (1906)
Bild: Wikipedia

Erneuter Ruf nach Weimar

Jener, den der Ruf aus Weimar im Sommer 1905 in seinem Sommerdomizil an der norwegischen Küste erreichte, hat indes arge Zweifel, ob er gerade überhaupt imstande sei, dem Wunsche Förster-Nietzsches nachzukommen. Völlig von seiner Nervenkrankheit eingenommen, erscheint es ihm ratsamer, den lukrativen Auftrag fürs Erste aufzuschieben und stattdessen an einem Ort mit guter Luft und ohne »Menschen, welche mich zu Alkohol verführen« Erholung zu suchen.

Auf Drängen der Nietzsche-Schwester kommt Edvard Munch Ende Oktober 1905 dann doch wieder in die Klassikerstadt — bietet seinen Weimarer Gastgebern aber ein in der Tat derart jammervolles Bild, dass diese ihn voller Sorge noch am gleichen Tag auf Kur schicken: nach Elgersburg, einem damals in ganz Deutschland bekannten kleinen Bade- und Kurort nahe Ilmenau. »Ich bin sehr froh das ich Elgersburg gefunden habe die Luft thut mich sehr wohl und dabei ist es sehr malerisch — Wanne Baden thut mich auch sehr wohl«, schreibt der nunmehr zum Kurpatienten gewandelte Maler voller Dankbarkeit wenig später nach Weimar zurück. Die Abgeschiedenheit des kleinen Thüringer Walddorfes und die dortige Kaltwasserheilanstalt verschaffen Munch die gewünschte Erholung: Mit regelmäßigen Wasser- und Luftkuren, ausgiebigen Spaziergängen — und wahrscheinlich auch einer deutlichen Reduzierung seines Alkoholkonsums — gelingt es ihm binnen der nachfolgenden vier Monate, allmählich wieder Herr seiner selbst zu werden.

DER MALER WAR SO FASZINIERT VON DER THÜRINGER SCHNEELANDSCHAFT, dass er diese in einer ganzen Gemäldeserie festhielt — hier: »Winterlandschaft« (1906)
Bild: Wikipedia

Die allmählich zurückkehrenden Kräfte versetzen ihn in einen regelrechten Schaffensrausch. Inspiriert von der attraktiven Winterlandschaft, die er im Thüringer Wald vorfindet, fertigt er unter anderem eine ganze Serie an Landschaftsbilder in Elgersburg an — am bekanntesten geworden sind die beiden Bilder »Dorfplatz in Elgersburg« und »Schneeschmelze in Thüringen«. Nebenher beginnt er mit den Vorbereitungen für das geplante Nietzsche-Bildnis und sammelt neue Porträtaufträge: Graf Kessler, den er bereits bei seinem Weimarbesuch im Jahr 1904 porträtiert hatte, wünschte sich ein weiteres Bildnis seiner selbst, Elisabeth Förster-Nietzsche trug sich ebenfalls mit dem Gedanken, von Munch ›verewigt‹ zu werden und auch aus Jena wurde ein Auftragswunsch an ihn herangetragen. Der Physiker und Kunstliebhaber Felix Auerbach bat den Norweger, ihn doch bitte aufzusuchen, sobald er sich dazu imstande fühle.

Schaffensreiche Kurzeit

DER GROSSE DENKER BLICKT INS TAL:
Munchs posthum in Weimar angefertigtes Nietzsche-Porträt (1906)
Bild: Wikipedia

Nach vier Monaten Kuraufenthalt in Elgersburg ist Edvard Munch Anfang Februar 1906 wieder soweit hergestellt, dass er seine Arbeits- und Wohnstätte vorübergehend nach Weimar verlegt, wo er sich im Hotel »Russischer Hof« niederlässt. Im hauseigenen Fürstenzimmer darf er sich ein Atelier einrichten. Während ihm die Auftragsbildnisse der Lebenden dort relativ schnell von der Hand gehen — Förster Nietzsche und Kessler erhalten Ganzfigurenporträts, Auerbach ein Halbporträt — ist er mit dem Nietzschebild, das in seiner Grundkomposition durchaus Ähnlichkeiten zu seinem heute berühmtesten Bild »Der Schrei« aufweist, erst nach mehreren Überarbeitungen zufrieden. »Ich habe ihn als den Dichter des Zarathustra dargestellt, zwischen den Bergen in seiner Höhle. Er steht auf der Veranda und schaut hinunter in ein tiefes Tal, über den Bergen steigt eine strahlende Sonne auf«, erläutert Munch sein Gemälde, das Friedrich Nietzsche in langem Mantel, mit Weste und Krawatte im Dreiviertelprofil zeigt, der an einer diagonal steil ins Bild führenden Brüstung lehnt, überstrahlt von einem in starken Gelb- und Orangetönen gefärbten Himmel.

Wendepunkt der Lebenskrise

Kaum ist das Bildnis des Philosophen fertiggestellt, entflieht der scheue Maler wieder dem städtischen Treiben Weimars und begibt sich noch einmal in Kurbehandlung — diesmal in Bad Kösen. Hier entstehen in den nachfolgenden acht Monaten zahlreiche weitere Landschaftsgemälde mit Thüringenansichten, aber auch ein Selbstporträt, das zum Schlüsselbild jener Lebenskrise geworden ist, aus der er sich in Thüringen zu befreien suchte: »Selbstbildnis mit Weinflasche« zeigt den Maler als einen offenkundig von Seelenqualen gebeugten Mann, der verloren und einsam, geradezu apathisch in einem fast leeren Lokal vor seiner Weinflasche sitzt, während im Hintergrund zwei konturlose Kellnerfiguren ihm wie Dämonen aus dem Nacken ragen. Wie es heißt, hat Munch dieses Porträt als eine Selbstprüfung betrachtet — die er nicht bestehen sollte.

EDVARD MUNCH »SELBSTBILDNIS MIT WEINFLASCHE« , gemalt 1906, als der von einer schweren inneren Krise gezeichnete Maler für mehr als ein Jahr in Thüringen weilte
Bild: Wikipedia

Nur wenige Monate, nachdem er Bad Kösen wieder gen Berlin und danach gen Warnemünde verlassen hat, erleidet er einen totalen Nervenzusammenbruch. Um nicht in eine deutsche Nervenheilanstalt zwangseingewiesen zu werden, kehrt der schwer angeschlagene Künstler dem Land im November 1908 fluchtartig den Rücken. Obhut und schließlich auch Heilung von seiner ›Nervenkrankheit‹ findet er in einer Klinik in Kopenhagen. Wie es das Schicksal will, erfährt er just dort in seiner schwärzesten Stunde endlich jene künstlerische Anerkennung, deren Verweigerung ihn gut 15 Jahre zuvor ins deutsche ›Exil‹ getrieben hat: In Würdigung seines außergewöhnlichen Talents wird ihm mit dem Sankt-Olav-Orden eine der wichtigsten Auszeichnungen des norwegischen Staates verliehen. Innerlich befriedet kehrt Edvard Munch 1909 nach einer siebenmonatigen Entziehungskur in sein Heimatland zurück, welches er bis auf kleinere Reisen bis an sein Lebensende nicht mehr verlassen würde.