Winterzeit ist Lesezeit. Teil 1

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Das Patentrezept für jeden müßigen Wintertag? Ein behagliches Plätzchen, eine warme Kanne Tee und natürlich: ein gutes Buch. Sollte es Ihnen dabei noch an geeignetem Lektürematerial mangeln, wir hätten da noch ein paar Leseempfehlungen – die wir gern mit Ihnen teilen. 

Aus Baronen werden Bettler: Nelio Biedermanns Pageturner „Lázár“

Der Schweizer Nelio Biedermann war gerade einmal 20 Jahre alt, als er 2023 seinen Debütroman „Anton will bleiben“ veröffentlichte – und damit die Aufmerksamkeit der gesamten deutschsprachigen Verlagswelt auf sich zog. Ein Talent war gesichtet, manch einer sah sogar schon einen neuen Thomas Mann ausgemacht. Wenig überraschend ging die Fertigstellung seines Romanzweitlings „Lázár“ mit einem regelrechten Bieterwettbewerb unter den heimischen Verlagen einher, wurden bereits 20 Auslandslizenzen für Übersetzungen der deutschsprachigen Ausgabe verkauft, bevor die gehörig mit Erwartungen beladene, 336 Seiten umfassende Geschichte schließlich im Frühling dieses Jahres im Rowohlt Verlag erschien – und seither mancherorts tatsächlich als literarische Sensation, unisono landauf, landab jedoch zumindest als eine der besten Romanveröffentlichungen des nunmehr auslaufenden Jahres 2025 gehandelt wird. Letzterem können und wollen wir an dieser Stelle ebenfalls zustimmen: „Lázár“ ist ein großartiger Roman, voller großer Gefühle (und ja, auch sexueller Drastik), großer poetischer Bilder – und jeder Menge Verweise auf andere Lichtgestalten der Weltliteratur. E.T.A. Hoffmann und Arthur Schnitzler lassen sich ebenso ausmachen wie Marcel Proust, unser aller Johann Wolfgang von Goethe, Simone de Beauvoir oder Virginia Woolf. Dabei ist Nelio Biedermann weit davon entfernt, jene Literaturgrößen nur für den bloßen Showeffekt herbeizuzitieren, er bedarf ihrer, um seine generationenübergreifende Geschichte einer Familie im scheinbar unaufhaltsamen Niedergang auszuleuchten.

Mehr als ein halbes Jahrhundert umfassend und vor den katastrophalen Großereignissen des 20. Jahrhunderts erzählt er die Verfalls- und Verlustgeschichte der traditionsreichen habsburgischen Adelsfamilie von Lázár aus dem südlichen Ungarn porträtiert – von Baron Sándor bis zu seinen Enkeln Pista und Eva – die sich auf der väterlichen Linie bis zum Autor höchstselbst erstreckt. Als Vertreter einer überkommenen, europäischen Ordnung verlieren sie im Zuge der Weltkriege und Revolutionen in geradezu ohnmächtiger Anteilnahme Besitz und Status. Was kurz nach der Jahrhundertwende im üppig ausgestatteten Waldschloss beginnt, endet zwei Generationen später vor Zürich, wohin die inzwischen mittellosen Pista und Eva vor den Schergen Stalins fliehen. Dazwischen immer wieder aufblitzend die Lebensverläufe der einzelnen Familienmitglieder, die zum Spielball der historischen Ereignisse, immer wieder aber auch zum Spielball ihrer eigenen Ängste, Sehnsüchte und Begierden werden.

Krieg, Vertreibung, Flucht, Enteignung, Depressionen, Liebe und Liebesleid, unterm Strich letztlich sogar die Vergeblichkeit aller Dinge, davon erzählt „Lázár“ in der Tat ausgiebig, höchst lakonisch, gleichzeitig höchst enigmatisch: Bei den dichten Bildern, die Biedermann in seiner Geschichte hervorzubringen versteht, scheint es fast egal, was und worüber er erzählt – solange er nur weiterhin mit so einnehmender Sogkraft zu erzählen versteht. Man darf gespannt sein, was dieses junge Schriftstellertalent seiner erwartungsvoll-hoffnungsfrohen Leserschaft in Zukunft noch alles vorsetzen wird.

Nelio Biederman: „Lázár“

Rowohlt Berlin, 336 Seiten (geb.)