Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Anna Prizkau: »Fast ein neues Leben«

Geschichten vom beinahe Ankommen

Anna Prizskau: „Fast ein neues Leben“ Friedenauer Presse, 110 Seiten (geb.)

Deutsche Gegenwartsliteratur ist längst auch Einwandererliteratur – was in jeder Hinsicht eine willkommene Bereicherung darstellt. Zu bereits etablierten Autor*innen wie Saša Stanišić, Maxim Biller, Nino Haratischwili oder Terézia Mora gesellt sich nun auch die in den neunziger Jahren mit ihren Eltern aus Russland eingewanderte, 1986 geborene Anna Prizkau hinzu, die nicht minder prosaisch behende, lebensweise und lebenssuchend wie ihre Kolleg*innen zu erzählen versteht.

Es ist die Geschichte einer jungen Einwanderin und ihrer Eltern, die Prizkau in zwölf lose miteinander verknüpften Erzählungen ausbreitet, wobei der Titel des Buchs deren zentrale Inhalt schon vorwegnimmt und auf den Punkt bringt: In „Fast ein neues Leben“ geht es ums Fortgehen aus einem alten und dem Ankommen in einem neuen Land – und die damit einhergehende Bewusstwerdung, dass beides als innerer Prozess weit über den reinen Bewegungsvorgang andauern kann. Die Mutter etwa hatte im Gegensatz zum Vater, der sich voller Optimismus und Entschlossenheit in das neue Leben in der neuen Heimat stürzt, die alte Heimat nie verlassen wollen. Ihr bleibt die neue Heimat fremd und unzugänglich, sie dieser unzugehörig. Und je erfolgreicher der Vater in der Gegenwart ihres neuen Lebens ankommt, desto mehr versinkt sie in Sehnsucht um die Vergangenheit, in Einsamkeit und Depression. Die Tochter als Erzählerin steht dazwischen, erlebt das Resignieren der Mutter und das Vorwärtsstreben des Vaters und entscheidet sich gewollt-ungewollt für dessen Kurs – will den Vater, was das Ankommen angeht, sogar noch überholen: mit perfekter Integration in die Gesellschaft des neuen Landes, also perfekter Sprache, perfekten Freunden und dem Bild perfekter Eltern. Doch der Wunsch mag sich partout nicht mit der Wirklichkeit vertragen, die ihr – mal unscheinbar, mal unverhohlen deutlich – immer wieder vor Augen führt, dass die alte Heimat noch immer an ihr klebt. Dass sie trotz aller Bemühungen, dem neuen Leben, der neuen Sprache, den neuen Menschen voller Kraft und Zuversicht entgegenzutreten, doch mit dem Status der Hinzugezogenen behaftet bleibt, der es auch Jahre später als mittlerweile erwachsener Frau nicht gelingen soll, dieses einmal adaptierte Gefühl der Fremdheit und Unzugehörigkeit jemals vollends wieder abzustreifen.

In sparsamen platzierten Sätzen und mit scheinbar schlichter Sprache hat Anna Prizkau zwölf atmosphärisch enorm aufgeladene, miniaturhaften Geschichten gewoben, die in ihrer Gesamtheit einen stark verdichteten, leise traurigen, aber nie hoffnungslosen Episodenroman vom ‘Beinahe-Ankommen‘ ergeben. Starkes Debüt – starkes Stück deutscher Gegenwartsliteratur.