Sie brauchen dieser dunklen Tage mal wieder frische Lektüreideen? Wissen wieder einmal nicht, was verschenken an Weihnachten? Ein Buch geht immer – und Vorschläge haben wir reichlich. Bis zum 24. Dezember öffnen wir hier täglich ein weiteres Türchen, um Ihnen eines jener Bücher mit dem besonderen Etwas vorzustellen, die dieses Jahr das Licht der Welt erblickt haben. Kommen Sie mit uns auf Adventslese – möglicherweise werden Sie ja fündig. Hinter Türchen Nr. 12 zum Vorschein kommt:
Edgar Rai: »Ascona«
Atmosphärischer Tatsachenroman
So aus dem Stehgreif – was sagt Ihnen der Name Ascona? Richtig, da gab es in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts diese durchaus beliebte Mittelklasse-Modellreihe von Opel. Darüber hinaus verweist Ascona aber auch auf jenen doch recht idyllisch gelegenen Ort am Lago Maggiore im Tessin, das zur italienischsprachigen Schweiz gehört. Über mehrere Jahrhunderte hinweg war Ascona (das mit 199m ü. M. übrigens der tiefstgelegene Ort der Schweiz ist) nicht mehr als ein kleines Fischerdorf direkt am Seeufer, dann irgendwann auch Kurort für gut Betuchte und heute ein allseits beliebtes Touristenzentrum für jedermann. In der Sommersaison beherbergt das gerade einmal 5.500 Einwohner zählende Städtchen die bis zu fünffache Menge an Feriengästen.
Eine besondere Rolle nahm Ascona während der Zeit des Nationalsozialismus ein. Nachdem die Nazis die Macht ergriffen hatte, flüchteten viele der in Deutschland nicht mehr wohlgelittenen Intelektuellen, Wissenschaftler und Künstler in die kleine Alpenrepublik, wobei das kleine Ascona am Lago Maggiore mehr und mehr zum Sammelbecken der Geflüchteten wurde. Edgar Rai hat sich in seinem neuesten Roman einer dieser Fluchtgeschichten angenommen und gewährt uns in „Ascona“ umfassende Einblicke ins Seelenleben des 34-jährigen Schriftstellers Erich Maria Remarque.
Vier Jahre zuvor erst, im Jahr 1929, hatte diesem das Erscheinen seines Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ quasi über Nacht erst zu landesweiter, nach der Hollywood-Verfilmung 1930 schnell aber auch zu internationaler Bekanntheit verholfen – andererseits aber auch jede Menge Anfeindungen von Seiten der emporstrebenden Nazis eingebracht, die in seinen Romandarstellungen eine Verunglimpfung der deutschen Armee und deutscher Soldaten sahen. Einen Tag nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 verließ Remarque Deutschland in seinem Auto südwärts und ließ sich in seiner unweit von Ascona befindlichen Villa nieder, die er sich vorsorglich wenige Monate gekauft hatte. Auch wenn ihm dort aufgrund des internationalen Erfolgs seines verfemten Romans im Gegensatz zu vielen anderen Exilanten, die ebenfalls in die Schweiz flüchteten, zumindest aus finanzieller Sicht ein sorgenfreies Leben möglich war, war der nun heimatlose Schriftsteller weit davon entfernt, ein unbeschwertes Leben zu führen. Depressionen, Alkohol und eine langanhaltende Schreibblockade bringen spürbare Risse ins Schweizer Idyll, die Nachrichten von der Bücherverbrennung im Mai 1933, der auch „Im Westen nichts Neues“ zum Opfer fällt, fahren ihm als reines Entsetzen unter die Haut.
Viele Emigranten kamen im Laufe der nachfolgenden Wochen und Monate ebenfalls nach Ascona, viele zogen nach kurzer Zeit wieder weiter, Remarque blieb und fand nirgends wirklich Halt. Einziger Lichtblick wird ihm eine kurze Affäre mit Marlene Dietrich, die ebenfalls Ascona passierte – und ihn letztlich irgendwann soweit bringt, dass auch den Willen aufbrachte, sich endgültig vom europäischen Kontinent zu lösen und in Richtung USA zu emigrieren.
Beruhend auf den Tagebucheinträgen Erich Maria Remarques und verschiedenen anderen Zeitzeugnissen hat Edgar Rai einen Roman verfasst, der mit angemessener Zurückhaltung und großer Empathie für seine Hauptfigur dessen Zerrissenheit zwischen Hoffnungen und Zweifel, Heimatlosigkeit und Neuanfang nachzeichnet. In seinem eher niedergeschlagenen Grundton sicher kein Favorit für die Sommer- oder Strandlektüre, aber definitiv eine sehr lohnende Investition während der dunklen Jahreszeit. Klarer Lesetipp.