Sie brauchen dieser dunklen Tage mal wieder frische Lektüreideen? Wissen wieder einmal nicht, was verschenken an Weihnachten? Ein Buch geht immer – und Vorschläge haben wir reichlich. Bis zum 24. Dezember öffnen wir hier täglich ein weiteres Türchen, um Ihnen eines jener Bücher mit dem besonderen Etwas vorzustellen, die dieses Jahr das Licht der Welt erblickt haben. Kommen Sie mit uns auf Adventslese – möglicherweise werden Sie ja fündig. Hinter Türchen Nr. 21 zum Vorschein kommt:
Matthias Lehmann: »Parallel«
Ein Leben zwischen den Welten
Karl Kling ist am Ende seines Berufslebens angekommen. Es sind die 1980er, Karl hat soeben ein letztes Mal das Werkstor passiert, der alte wie auch der noch ungeschriebene neue Lebensabschnitt werden im Kreise der alten Kollegen feucht-fröhlich gefeiert. Alle sind sich einig, jetzt mit dem erreichten Ruhestand könne Karl es sich nun endlich richtig gut gehen lassen. Frauen, Reisen, endlose Freizeit und so. Karl nickt dazu, prostet kameradschaftlich mit an, trägt den ganzen Kerl zur Schau, den seine Kollegen sehen wollen und ist dabei nach außen hin doch ein gutes Stück weit nur Fassade. Wie schon so oft in seinem zurückliegenden Leben, auf das er nun zurückzuschauen beginnt. Denn Karl Kling ‘ist‘ etwas, was in den Jahrzehnten nach Kriegsende und noch bis weit in die 1980er Jahre hinein in Deutschland gar nicht geht, tatsächlich sogar unter Strafe stand: homosexuell – und damit sein ganzes bisheriges Leben lang gezwungen gewesen, seine Sexualität im Verborgenen zu leben und auch all die mit der gesellschaftlichen Ächtung einhergehenden Konsequenzen zu ertragen. Etwa den Rausschmiss aus seiner westdeutschen Heimatstadt und ersten Ehe gleich nach dem Krieg durch seinen bürgermeisternden Schwiegervater, der keinen ‘warmen Bruder‘ in seinem Ort und erst recht nicht in seiner Familie duldete. Oder die verfahrene Beziehung mit seiner anschließenden ostdeutschen Lebensgefährtin Lieselotte und ihrer gemeinsamen Tochter Hella, in der sich seine eigene heimliche Affäre Helmut irgendwann nicht nur zum hauseigenen Untermieter, sondern auch zum Liebhaber Lieselottes entwickelte.
Dabei sehnt Karl sich bei allem inneren Drang und äußeren Zwang, jene geheimen Orte aufzusuchen, an denen sich Homosexuelle treffen, tatsächlich auch nur nach einer ganz normalen bürgerlichen Existenz mit Familie. In die er seine eigene sexuelle Ausrichtung irgendwie integrieren kann. Doch dieser Wunsch nach einem parallel geführten, nach einem selbstbestimmten Leben will und kann ihm nicht gelingen in einer Gesellschaft, die Homosexualität konsequent mit Ächtung und Strafverfolgung begegnet. Im Westdeutschland der 1980er ist Karl dazu verdammt, auch jetzt noch als Ruheständler weiterhin ein Zerrissener zu bleiben, weiterhin in einer Zwischenwelt zu leben – denn Homosexualität wird in Deutschland erst 1994 davon befreit, ein Verbrechen zu sein. Ihm bleibt nur, sich in einer umfassenden Lebensbeichte an seine Tochter, der er nie ein Vater zu sein vermochte, ein wenig von der Last abzustreifen, die schon so viele Jahrzehnte auf seinen Schultern lastet.
Eine Coming-Out-Geschichte inmitten von Nachkriegszeit, deutscher Teilung und Arbeitermilieu als 450 Seiten-Comic – kann das funktionieren? Ja, unbedingt! Weil Matthias Lehmann, der Zeichner und Autor von „Parallel“ künstlerisch so hochwertig, nein, so fesselnd und einnehmend zu erzählen versteht, dass man von dieser Geschichte sofort gefangen ist, wenn man erst einmal in die ersten Seiten der Graphic Novel eingetaucht ist. Ausdrucksstarke Schwarz-weiß-Zeichnungen, schlierenhafte, stimmungstragende Grautöne, Figuren, die mit wenigen, dafür umso präziser ausgeführten Strichen in ihrer Mimik und Gestik dargestellt werden und eine zurückhaltend gefühlvoll erzählte Geschichte – ‘mehr‘ braucht es nicht, um sofort von der Lebensgeschichte Karl Klings eingenommen zu sein, die Lehmann hier erzählt. Mit „Parallel“ ist dem Leipziger Künstler eine durchweg überzeugende Graphic Novel gelungen, die bei Weitem nicht nur bei Comic-Fans auf Anklang stoßen dürfte.