Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Das harmonische Sachbuch-Trio
Blätternd reisen, lesend staunen – wie behaglich ist es doch derzeit gerade wieder, sich die Welt in ihren mannigfachen Facetten vom Sofa aus zu erschließen. Etwa, um dem Phänomen tierischer Navigationsfähigkeit auf die Spur zu kommen, den verloren gegangenen Zauber der Nacht bei einem ausgiebigen literarischen Streifzug durch heimatliche Flur wiederzuentdecken, oder um einen kartografischen Rundumblick für die Geschichte der Landkarten vermittelt zu bekommen. Drei erzählende Sachbücher voller Wissen, Einsichten und Unterhaltungswert, die einen Platz auf dem Büchertisch verdient haben.
Meister der Navigation und Orientierung
Von Haus aus ist der Brite David Barrie eigentlich studierter Psychologe und Philosoph, ein Thema, dem er ‘nebenher‘ jedoch ebenfalls schon seit Jahren nachstellt, ist das große Feld tierischer Orientierung. Wie wir Menschen durch die Welt kommen beziehungsweise uns in dieser zurechtfinden, wenn sie uns nicht bekannt ist, ist nicht schwer zu erklären: Wir greifen auf Hilfsmittel wie Karten, Kompass oder GPS zurück. Das eigene Smartphone als Navigator weist und den Weg zu jedem Wunschziel, also zumindest meistens. Doch wie geht das in der seit eh und je smartphonefreien Tierwelt vor sich? Wie finden all die Fische und Vögel, Insekten und Meeressäuger zu ihren teils weltumspannenden Zielen. Wie finden Ameisen oder Bienen stets wieder in ihren Bau zurück? Wie schaffen es Wale, über tausende von Kilometern einen schnurgeraden Kurs zu halten? Wie vermögen es Tauben, die Hunderte Kilometer von ihrem Schlag freigelassen werden, ohne große Probleme den Heimweg zu meistern? Oder die sämtliche Langstrecken-Flugrekorde brechende Küstenseeschwalbe ihren zig tausende von Kilometern umfassenden alljährlichen Rundflug von einem Ende der Welt zum anderen zu bewältigen, ohne vom Kurs abzukommen? Wie gelingt es der Schweißbiene trotz kompletter Dunkelheit bei Nacht im tropischen Regenwald ihrem Sammelauftrag nachzugehen? Dem nordamerikanischen Kiefernhäher, sich bis zu 6.000 Verstecke zu merken, an denen er ähnlich einem Eichhörnchen Samen für schlechte Zeiten gebunkert hat?
Mehr als 400 Studien zu den unterschiedlichsten Tieren und Tierarten hat David Barrie für sein Buch „Unglaubliche Reisen. Vom inneren Kompass der Tiere“ ausgewertet, Dutzenden Forschern und Forscherinnen bei der Feld- oder Laborarbeit über die Schulter geschaut, zahllose Fallbeispiele gesammelt und so über die Jahre hinweg einen faszinierenden Strauß wahrhaftig erstaunlicher navigatorischer Leistungen in der Tierwelt zusammengetragen. Welchen er – willkommen und lesewertsteigernd – als unterhaltsamen, in 27 Kapitel unterteilten Anekdoten-Erzählreigen vor uns ausbreitet. Also versehen mit jeder Menge vermeintlichen inhaltlichen Abschweifungen – und dennoch stets wissenschaftlich fundiert. Weniger ein nackte Fakten aneinanderreihendes, charmefreies Lehr- als vielmehr ein erzählerisch wunderbar aufbereiteter Wissensfundus, der mit tierischen Einsichten nicht geizt und dem Lesenden einen völlig neuen Blick auf die mitunter erstaunlichen Orientierungs- und Navigationsfähigkeiten eröffnet, zu dem die uns umgebende Tierwelt imstand ist.
Den Zauber der Nacht wiederentdeckt
Auf eine Erkenntnisreise der besonderen Art kann man seit vergangenem Herbst auch Dirk Liesemer begleiten – genau genommen: eine Reise in die Nacht. Der Anfang 40-jährige, vielreisende Autor kam, als er vor ein paar Jahren in Leipzig lebte und dort die dunklen Vororte durchstreifte zu der Einsicht, dass ihm die aus der eigenen Kindheit vertrauten Geräusche und Bilder der Nacht verloren gegangen waren, er nicht einmal mehr imstande war, die Sternbilder am Nachthimmel zu erkennen. Liesemer beschloss zu schauen, ob sich diese Nachtseite des Lebens nicht irgendwie wiederentdecken ließe – auch, weil er das (wohl berechtigte) Gefühl hatte, dass nicht nur er von diesem verlorengegangenen Kontakt betroffen war, sondern uns allgemein irgendwie der Zugang zur Nacht abhanden gekommen ist. Was wissen wir abseits unserer gut ausgeleuchteten Städte schon über sie – außer dass sie uns fremd und unzugänglich, ja undurchschaubar erscheint, uns unheimlich ist und Ängste hervorbringt?
Auch Dirk Liesemer hat auf seinen ersten Nachtwanderungen mit diesem Fremdheitsgefühl zu kämpfen, weiß nicht, wie man sich orientiert oder welche Geräusche was bedeuteten. Ob das vermeintlich so laute Rascheln im Gebüsch nun einer Maus oder vielleicht doch einem Wildschwein zuzuordnen ist. Doch je länger und häufiger er nachts unterwegs ist – insgesamt begibt er sich für sein Projekt auf mehr als 50 nächtliche Wanderungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz – desto mehr findet er den verloren geglaubten Zugang zur Dunkelheit wieder und sich selbst besser zurecht in der allumfassenden, form- und farblosen Reduziertheit der Nacht. Zu allen vier Jahreszeiten durchstreift er die Lande – sowohl die finstersten wie auch die nächtens hellsten Gebiete, sowohl entlegene Wälder, Wiesen und Berge als auch zivilisationsgeprägte Park- und Stadtlandschaften – häufig allein, immer wieder aber auch in Begleitung anderer, die ebenfalls im regen Austausch mit der dunklen Seite des Tages stehen: Astronomen, Jäger, Vogel-, Fledermaus- und Spinnenkundler, Esoteriker, Maler, Müllmänner und Märchensammler. Von allen lernt er etwas über die an Facetten doch so reiche Nacht, beobachtet und reflektiert, lässt den eigenen Gedanken freien Lauf lassen und uns ohne jede Aufdringlichkeit daran teilhaben. In diesem Sinne beinhaltet „Streifzüge durch die Nacht“ nicht nur vielerlei erkenntnis- und lehrreiche Einblicke in die dunkle Tagesseite unserer heimatlichen Umgebung, sondern auch jede Menge Anregung, selbst einmal „furchtlos ins Dunkel [zu] springen“. Denn eines weiß Dirk Liesemer am Ende seiner nächtlichen Wanderschaft mit Sicherheit: „Sie werden direkt vor ihrer Haustür eine neue Welt kennenlernen, und selbst wenn Sie dort niemanden treffen, dann werden Sie zumindest einer Person begegnen: sich selbst.“
Weltansichten
Ähnlich wie David Barrie und Dirk Liesemer lädt auch Thomas Reinertsen Berg zu einer literarischen Reise der besonderen Art ein. Anhand von 49 großformatigen Welt- und Landkarten hat der Norweger ein beeindruckendes erzählerisches Panorama der Entwicklungsgeschichte der Landkarten und Globen ausgebreitet – von der Steinzeit über die Zeit der großen Vermessungen und Entdeckungsreisen bis hin zu den allumfassenden Möglichkeiten der digitalen Welt. Schon früh entdeckte der Autor offenbar seine Leidenschaft für Karten: „Ich weiß noch, wie gerne ich als Kind in meinem Atlas blätterte und um die Welt reiste. Aber es gab nie etwas darüber, warum die Karten erstellt wurden – oder wer sie gezeichnet hat. Dieses Buch ist nun die Gelegenheit für mich, die Geschichten all jener Frauen und Männer zu erzählen, deren erstaunliche Arbeit es verdient, gefeiert zu werden.“ Aber nicht nur die Schöpfer bzw. Gestalter dieser Karten werden zum Gegenstand seiner mehrere Jahrtausende umspannenden kartografischen Erzählungen und Erläuterungen. Denn auch die jeweilige Umstände der Zeit, also die wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und religiösen Gegebenheiten und Werte, der eine jede dieser geografischen Weltdarstellungen zwangsläufig unterworfen ist, fließen mit ein in die umfassend recherchierten und eloquent dargereichten Betrachtungen, mit denen Thomas Reinertsen Berg sein preisgekröntes Sachbuch zur Genüge ausgestattet hat.
Und so begeben wir uns in „Auf einem Blatt die ganze Welt“ auf eine durchaus spannende, in jedem Fall eindrückliche, mehrperspektivische (Zeit)Reise durch die Geschichte der Landkarten, die uns im Anbeginn zu den ersten prähistorischen Karten in die Steinzeit und zu den ersten babylonischen und ägyptischen Kartierungsbemühungen führt, machen hiernach Station u.a. in der römischen Antike und im Antwerpen des 16. Jahrhundert – das zum Zentrum der Kartografie erwachsen sollte, schwenken später ab in die Arktis, um gemeinsam mit Fridtjof Nansen unerschlossene Landschaften zu kartieren, erheben uns im beginnenden 20. Jahrhundert endlich auch in die Lüfte, um die Kartografie final und unwiderruflich zu einem zentralen Bestandteil des aufziehenden Ersten Weltkrieges zu machen, liefern uns einen Wettlauf um das erste vom Weltraum aus gefertigte Erdenabbild, tauchen tief hinab ins Blau unseres Ozeane, darum bemüht, auch diese irgendwie topografisch zu erfassen und landen schließlich in der stetig davoneilenden Gegenwart, die von der flüchtigen Halbwertszeit informationsüberfrachteter digitaler Aufzeichnungen und dem fortwährenden Sehnsuchtswunsch, den uns umgebenden geografischen Raum so detailliert wie möglich im Bilde festzuhalten, geprägt ist. Ein Traum von Sachbuch für jeden, der gern mit dem Finger auf der Landkarte verreist.