Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Robert Moor: »Wo wir gehen«

Wege und Einsichten

Robert Moor: „Wo wir gehen. Unsere Wege durch die Welt“
Insel Verlag Berlin, 414 Seiten (geb.)

Die Appalachen im Osten der Vereinigten Staaten zählen neben den Rocky Mountains zu den bekanntesten Gebirgssystemen Nordamerikas. Wie viele andere Gebirgszüge verfügt natürlich auch die insgesamt 14 Bundesstaaten durchmessende, größtenteils bewaldete Mittelgebirgsregion über einen Fernwanderweg – der in seiner Gesamtlänge allerdings so ziemlich alles sprengt, was wir hierzulande an Wanderpfaden zwischen Erzgebirge und Thüringer Wald, Eifel, Schwarzwald und Alpen kennen: Gut 3.500 Kilometer abseits der Zivilisation müssen all diejenigen meistern, die sich auf den langen, langen ‘Appalachian Trail‘ begeben. Und das sind viele. Mehr als 1.500 Entschlossene schnüren jeden Frühling die Wanderschuhe, um die Fünfmonatstour bis zum Ende des Sommers zu bewältigen.

Auch Robert Moor, US-amerikanischer Autor und Journalist mit einem bereits in Kindheitstagen geschulten Faible fürs Wandern, war von der Idee angefixt, sich dieser Herausforderung zu stellen. Nicht ahnend, dass er sich ausgerechnet eines der kühlsten Jahre des Jahrzehnts für sein großes Abenteuer ausgesucht hatte, begab er sich an einem kalten Märztag im Jahr 2009 an den Startpunkt in Georgia – um in der Folge, wie er es formuliert, „fünf Monate auf Schlamm“ zu starren. Trotz fortschreitender Jahreszeit blieb es beständig kühl und gleichermaßen anhaltend regnerisch. Ausreichend Gelegenheit also für den Wanderer, sich gänzlich unabgelenkt von der wolkenverhangenen Umgebung in geradezu kontemplativer Weise einzig und allein auf den Pfad vor seinen Füßen zu konzentrieren – und sich einer scheinbar trivialen, aber dann doch nicht so leichthin zu beantwortenden, vielmehr reichlich Folgefragen aufwerfenden Fragestellung zu widmen: Warum gibt es diesen Pfad, dem er da folgt? Warum gibt es überhaupt Pfade? Woher kommen sie? Warum folgen wir ihnen? Warum überdauern die einen lange Zeitspannen während andere sich verändern oder gar wieder verschwinden? Und wieso finden selbst die vermeintlich schlichtesten Tiere ohne Weiteres des effizientesten Weg, erweisen sich zahlreiche Säugetierarten von Natur aus als versierte Wegebauer, wohingegen der Mensch sich in unbekanntem Terrain häufig völlig disproportional zu seiner vermeintlichen hohen Intelligenz verhält?

Die Evolutionsgeschichte der Wege

Robert Moor bewanderte nicht nur den Appalachian Trail bis zu seinem Endpunkt, sondern streifte, getrieben von diesem Strauß an Fragen, hiernach über sieben Jahre lang kreuz und quer um den Globus, um auf vielfach begangenen Wegen ebenso wie auch auf Pfaden, die sich dem Einblick zu verbergen scheinen, Antworten auf seine Fragen zu finden. Eingang gefunden haben die dort gesammelten, mit wissenschaftlichen Einsichten unterfütterten Erkenntnisse in dem 2016 unter dem Originaltitel „On Trails. An Exploration“ veröffentlichten, mittlerweile mit zahlreichen Preisen überhäuften und nun auch auf Deutsch erhältlichen Buch „Wo wir gehen“. Insgesamt ein halbes Dutzend Reportagen in sehr zugänglich verfasster Essayform laden hierin zu einer Entdeckungstour der besonderen Art ein: der Evolutionsgeschichte der Wege.

Erste Station: Das Präkambrium. Anhand von Fossilien versucht Moor zu ergründen, warum Tiere in der Erdfrühzeit sich überhaupt zu bewegen begannen, was durchaus erstaunliche Erkenntnisse hervorbringt. In den nachfolgenden Kapiteln befasster der Autor sich unter anderem damit, wie Insektenkolonien per Schwarmintelligenz Wegenetze erstellen, widmet sich mit dem Orientierungsverhalten vierbeiniger Säugetiere, die sich in ihren mitunter extrem weitläufigen problemlos zurechtfinden und landet schließlich beim Menschen der grauen Vorzeit, der einmal sesshaft geworden, damit begann, seine Umgebung mit Pfaden zu durchsetzen, was wiederum unmittelbare Auswirkung auf die Entwicklung der menschlichen Kultur hatte. Moor ist mit „Wo wir gehen“ ein an Einsichten und Weisheit reiches Buch gelungen, in dem so etwas Schlichtes wie ein Pfad, ein einfacher Weg zu einem zentralen Faktor des Lebens überhaupt erwächst. Dem zum anekdotenhaften Erzählen neigenden Autor auf diesen Wegen zu folgen, erweist sich dabei eine überraschend durchweg spannende, alles andere als eine staubig-langweilige Angelegenheit, die natürlich auch davon getragen wird, dass Moor egal, ob er gerade alten Indianerpfaden nachspürt, widerborstige Schafe hütet, sich mit Fragen von Wissenschafts- und Erkenntnistheorie beschäftigt, Sagen und Mythen ausgräbt oder Elefanten in ihrem Wegeverhalten beobachtet, angenehmerweise doch stets seinen Haupterzählfaden bzw. -pfad im Blick behält. „Wo wir gehen“ lässt einen erkennen, lernen, reflektieren und eigenen Lebenswegen nachschwelgen. Und braucht dabei der Weisheit letzten Schluss zu guter Letzt auch gar nicht mehr plakativ herausstellen: Den eigenen Weg – den muss ein jeder von uns dann doch stets selbst für sich finden…