Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Ljudmila Ulitzkaja: »Eine Seuche in der Stadt«
Tödlicher Virus in totalitärem System
Es bedarf nur einer kleinen Unachtsamkeit und schon nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Als Rudolf Iwanowitsch Mayer, Forscher am Pest-Institut von Saratow, damit beauftragt, einen Impfstoff gegen alle bekannten Pestarten zu entwickeln, eines Winterabends im Jahr 1939 mitten in einer Versuchsanordnung zum Rapport ans Telefon gerufen wird, geschieht, was innerhalb der Isolierkammer, in der er sich befindet, besser nicht passieren sollte: Seine Gesichtsmaske verrutscht ihm leicht, der Kinnriemen hat sich unversehens gelöst. So richtig nimmt das in diesem Moment so unscheinbar ins Rollen gebrachte Unglück aber erst an Fahrt auf, als Mayer, bereits Pestvirus-infiziert, sich am nächsten Tag in den Zug nach Moskau setzt – das Volkskommissariat für Gesundheit hat ihn einbestellt, um Auskunft über den Stand seiner Forschung zu geben. Schließlich hält man den Impfstoff nicht nur für wichtig, sondern auch höchst bedeutsam. Ein wirksamer Pestimpfstoff würde dem Kommunismus ohne Zweifel den Weg zum endgültigen Sieg ebnen, weltweit. Doch Mayer bringt nicht nur seinen Bericht mit nach Moskau, sondern eben auch das, was er eigentlich ausmerzen will: die Lungenpest. Schon unmittelbar nach der Sitzung im Volkskommissariat bricht er in seinem Hotel zusammen, wird vom herbeigerufenen Arzt mit Verdacht auf Lungenentzündung ins Krankenhaus eingewiesen – wo der leitende Arzt der Notaufnahme zum Glück die Symptome, die der halb bewusstlose Patient aufweist, sofort richtig zu deuten weiß, sofort alle nun notwendigen Maßnahmen in die Wege leitet: Station isolieren, sich selbst unter Quarantäne setzen, Vorgesetzte und Behörden informieren, Infektionsketten durchbrechen, die Maschinerie der Nachverfolgung ins Rollen bringen. Und diese Maschinerie funktioniert gut, sehr gut sogar! Wenn man im Jahre 1939 eines in Moskau kann, dann ist es nachverfolgen. Also beginnt das NKWD – das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten –, welches sich sonst eher damit befasst, Angst und Schrecken zu verbreiten, das öffentliche und private Leben aller Sowjetbürger mit Denunziation, Verhaftung, Verbannung und heimlichen Hinrichtungen auf den vom großen Führer vorgegebenen Kurs zu bringen – ausgerechnet diese Zentralinstitution des staatlichen Terrors wird nun mit der lebenserhaltenden Aufgabe betraut, den Wettlauf gegen die Zeit, gegen das Pestvirus sofort aufzunehmen, bevor dieses sich in der Stadt ausbreiten oder gar zur landesweiten Pandemie auswachsen kann. Ein Scheitern ist selbstverständlich komplett ausgeschlossen.
Spannend und makaber
Ljudmila Ulitzkaja, die Autorin von „Eine Seuche in der Stadt“ hat dieses Szenario, das ihren Worten zufolge auf einer weitgehend unbekannten, aber so tatsächlich geschehenen Begebenheit beruht, bereits vor über 40 Jahren geschrieben, dann aber wieder vergessen. Wiederentdeckt hat sie das kleine Prosawerk bezeichnenderweise erst als sie sich im vergangenen Jahr wie die halbe Welt im Corona-Lockdown befand und daheim ihre Habseligkeiten sortierte. Was ihren als Filmskript angelegten gut 100 Seiten umfassenden Prosatext zu einer Lektüreempfehlung macht, ist sicher auch der Bezug zu der Pandemiezeit, in der wir selbst seit geraumer Zeit feststecken. Aber auch ohne diesen Kontext weiß „Eine Seuche in der Stadt“ ohne weiteres zu überzeugen: Mit seinen schnell wechselnden, von Dialogen geprägten und dicht an den Figuren geführten Szenen entwickelt das von Ulitzkaja komponierte Szenario eine erstaunlich einnehmende Dynamik, die mit jeder weiteren Seite an Tempo und Spannung gewinnt und – und dies ist das wahrhaftig Bemerkenswerte dieses Texts –darüber hinaus ganz ‘nebenher‘ das Bild einer Gesellschaft nachzeichnet, die bereits derart vom allgegenwärtigen Stalinschen Terror paralysiert ist, dass all jene, die von den schwarzen Wagen des NKDW abgeholt werden, weil sie mit dem Erstinfizierten in Kontakt gekommen waren, ausnahmslos davon ausgehen, nun in eins der berüchtigten Folterkeller verschleppt zu werden. Dabei ist es makabererweise in diesem einen Fall tatsächlich einmal die Erhaltung von Leben, die den Geheimdienst zur ‘Nachverfolgung‘ im Volke antreibt…
Gute Lektüre für einen grauen Winternachnachmittag.