Zeit für Entdeckungen. Teil 6

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Winterzeit ist bekanntlich Lesezeit. Ein behagliches Plätzchen, eine Kanne warmen Tee und ein gutes Buch – mehr braucht es häufig nicht, um es sich in der dunklen Jahreszeit gut gehen zu lassen. Grund genug, Sie hier zusätzlich zu den allmonatigen Büchertipps unserer Printausgabe noch mit ein paar zusätzlichen Leseempfehlungen zu versorgen.

Aus der Perspektive der Ausgenutzten: James Hynes‘ „Ich, Sperling“

Historienromane, die uns die Antike vor Augen führen, erzählen häufig von Königen und Kaisern, von Helden und Eroberern. Der amerikanische Autor James Hynes geht in seinem neuen, jetzt auf Deutsch erschienenen Roman „Ich, Sperling“ einen anderen Weg. Hynes wendet sich denen zu, die am vermeintlichen Rand der Gesellschaft leben: den Deklassierten und Ausgenutzten, den Sklaven und Prostituierten. Das Wort überlässt er dabei einem alten Mann, der sich selbst Jakob nennt, in seinem Leben aber schon viele andere Namen getragen hat, die ihm von anderen gegeben worden sind: „Ich, Jakob, Sohn von niemandem, Vater von niemandem, geliebt von niemandem, Sklave, Hure, ein Cinaedus, Eunuch, Mörder, Zuhälter, vielleicht Jude, vielleicht Syrer, vielleicht Nilschlamm, Arbeiter, Aufseher, Krüppel, Schwindsüchtiger, herrenloses Gut, verwittertes, von der Flut angespültes Treibholz, letzter Bewohner einer menschenleeren Stadt in einer aufgegebenen Provinz am äußersten Rande eines sterbenden Imperiums, schreibe diese Geschichte meines Lebens nieder.“ 

James Hynes: „Ich, Sperling“
dtv, 590 Seiten (geb.)
Bild: Verlag

Es ist das 4. Jahrhundert n. Chr. und das einst so große, strahlende römische Imperium liegt im Sterben. Jener Ich-Erzähler Jakob wird zu einem kleinen Puzzlestein dieses Imperiums. Als Waisenkind spült ihn das Leben ins an den Außengrenzen des römischen Reichs gelegene spanische Carthago Nova gespült – ohne Namen und ohne Herkunft. Von Sklavenhändlern wird er irrtümlich für ein Mädchen gehalten und an ein Bordell verkauft. Als Junge nutzlos für die Zwecke, für die er eigentlich erworben wurde, besteht die Aufgabe, der er fortan nachgehen muss, zunächst darin, in der Küche auszuhelfen, Botengänge auszuführen, später auch in der angeschlossenen Taverne auszuhelfen. Zuwendung findet er nur bei der Köchin und bei einer der Prostituierten, Euterpe, die sich beide um den kleinen Jungen kümmern, ihm die Funktionsweise ihrer Welt erklären und emotionalen Halt geben. 

Sein Alter bemisst Sperling, wie er liebevoll von Euterpe genannt wird, in den nachfolgenden Jahren eigentlich nur in „alt genug, um Wasser zu holen“ oder „alt genug, um Brot zu kaufen“ benennen. Doch eines Tages wird sein bisheriges Arbeits- und Aufgabenfeld erheblich ausgeweitet: Kaum zehn Jahre alt, wird er nun auch für alt genug gehalten, um im Obergeschoss, dem Arbeitsplatz der Prostituierten zu arbeiten. Traumatische Erfahrungen erwarten ihn dort, denen er oftmals nur damit begegnen kann, dass er aus sich heraustritt und wie ein Vogel – ein Sperling – dem Erlebten ekstatisch von ‘oben‘ aus der Vogelperspektive beiwohnt. Es ist ein Schutzmechanismus, der ihm hilft, der gelebten Wirklichkeit zu entfliehen. Trotz allen Leids und aller Grausamkeiten, von denen das Leben im Bordell viele weitere Kapitel bereithält, gelingt es ‘Sperling‘, sich seine kindlich-unschuldige Sicht auf die Welt zu bewahren – und nicht an den Lebensumständen zu zerbrechen, in denen er gefangen ist…

„Ich, Sperling“ ist ein historischer Roman, der mit großer Vorstellungskraft und wohldosiertem Einfühlungsvermögen das spätrömische Reich aus der Perspektive der Ausgenutzten auferstehen lässt. Szenen voller Rohheit, Gewalt und Brutalität finden sich darin ebenso wieder wie Szenen, die Trost spenden, voller Zuwendung und Liebe stecken – ohne je ins Melodramatische oder gar Kitschige zu kippen. James Hynes erzählt schonungslos, ehrlich und ohne zu verklären – eine sehr eindrückliche, berührende und bis zur letzten Seite fesselnde Geschichte, wie sie tatsächlich stattgefunden haben mag.

James Hynes: „Ich, Sperling“

dtv, 590 Seiten (geb.)