Im Rahmen des dezentralen Theaterprojekts »KEIN SCHLUSSSTRICH!« zum NSU-Komplex entstand das mit dem Jakob-Michael-Reinhard-Lenz-Preis der Stadt Jena ausgezeichnete Projekt »Die Mutige Mehrheit« der Regisseurin und Autorin Antje Schupp am Theaterhaus Jena. Das Projekt verfolgt dabei einen interessanten Ansatz, denn es gliedert sich in drei Teile – so wird sich einer mutigen Mehrheit entweder individuell, in Gruppen oder gar deutschlandweit genähert.
2011 flog das rechtsextreme Netzwerk des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds — kurz NSU — durch die Selbstmorde von Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt auf. Beide stammten, ebenso wie die kurz darauf verhaftete Mittäterin Beate Zschäpe, aus Jena. Alle drei gingen hier zur Schule, waren in der Wendezeit Teenager und radikalisierten sich kurz darauf. Doch wie konnte es so weit kommen? Wann kippten die Jugendlichen ins Extrem? Wieso haben die Wenigsten diese Entwicklung ernst genommen? Und was können wir daraus lernen? Die »Mutige Mehrheit« versucht, in drei Teilen Antworten darauf zu geben.
Der individuelle Weg
Der erste Teil ist ein Solo-Audio-Walk im Stadtraum von Jena und heißt ziemlich treffend »(Un)Sichtbare Spuren«. Denn nach wie vor gibt es viele Abdrücke, die der NSU hinterlassen hat. Manche sind sichtbar, andere hingegen vollkommen aus dem Stadtbild verschwunden — als Beispiel sei das ehemalige »Braune Haus« in Alt-Lobeda genannt. »Wer neu in die Stadt kommt und sich nicht näher mit den Ursprüngen und Treffpunkten des NSU — oder nach deren Untertauchen seiner Unterstützergruppen — beschäftigt, wird dieses Haus nicht wahrnehmen«, so Antje Schupp, welche das Projekt konzeptioniert und realisiert hat. »Trotzdem stellen sich nach wie vor etliche Fragen: Wie viele unbekannte Helfer und Helferinnen des NSU-Trios waren dort zu finden? Wieso wurde von staatlicher und behördlicher Seite nicht stärker gegen die Umtriebe im und um das Haus vorgegangen?«
Das sind bislang unbeantwortete Fragen, obwohl der NSU-Prozess lückenlose Aufklärung in allen Bereichen versprach. Und es sind Fragen, die dazu anregen, das Thema weiter in die heutige Zeit zu denken. »Nur weil es das Braune Haus nicht mehr gibt, heißt das nicht, dass solche Treffpunkte nicht weiterhin existieren. Die rechte Szene erwirbt heutzutage etliche Häuser und macht sie zu ihren Zentralen — nur stehen diese jetzt woanders.«
Der Walk startet am Paradiesbahnhof und führt über Alt-Lobeda nach Winzerla wieder in die Stadt hinein. Dabei werden die Audiodaten einfach aufs Smartphone geladen, somit lässt sich jederzeit bestimmen, wann der Walk beginnen, enden oder pausieren soll.
Der gemeinsame Weg
Der zweite Teil des Projekts findet nicht mehr alleine, sondern in Gruppen statt. »Deutschkunde 2021« soll — natürlich aus dem Ansatz des Projekts heraus gesehen — Pflichtfach der Zukunft sein. Doch möglicherweise wird dort die eigene Perspektive ordentlich auf den Kopf gestellt. Antje Schupp: »Ich bin in der Mittelschicht aufgewachsen, keine Person of Color und habe keinen Migrationshintergrund. Deswegen habe ich keinerlei Erfahrungen mit Rassismus machen müssen, mir standen alle Türen offen. Doch unternimmt man den Versuch eines Perspektivwechsels und betrachtet den Lebensweg von Personen in Deutschland mit anderen Vorzeichen als meinen, sieht das meist ganz anders aus.« Um diesen Perspektivwechsel vorzunehmen, wurden verschiedene Vortragende eingeladen, die aus einem breiten Spektrum berichten: begonnen bei der Geschichte der Gastarbeiter, aus deren Familien die späteren Opfer des NSU meist stammten, bis hin zur Frage, wie man selbst mehr Empathie und Aufmerksamkeit für das Thema entwickeln kann. Zusätzlich gibt es Diskussionsrunden, Workshops und Filmvorführungen.
Der deutschlandweite Weg
Einen spannenden Ansatz verfolgt abschließend der dritte Teil des Projekts, die namensgebende »Mutige Mehrheit«. Hierzu wird in ganz Deutschland ein analog-digitales Kettenbriefprojekt gestartet. Analog deshalb, weil an vielen öffentlichen Flyerstationen klassische Postkärtchen ausgelegt werden. Auf denen wird um Vorschläge gebeten, wie wir die Zukunft einer mutigen Mehrheit gestalten wollen, die sich gegen Taten wie denen des NSU erhebt, noch bevor sie geschehen. »Im besten Fall werden die Karten ausgefüllt und an uns zurückgeschickt«, erklärt Antje Schupp. »Aber es geht natürlich auch digital. Abfotografieren und hochladen ist ebenso möglich.« Viele der zurückgesendeten Karten werden anschließend in einer Ausstellung zu sehen sein.
»Die Mutige Mehrheit«:
Teil 1: »(Un)Sichtbare Spuren«, im gesamten Stadtgebiet ab 21.10.2021
Teil 2: »Deutschkunde 2021«, 30. und 31.10.2021, Stadtteilzentrum LISA und Volksbad, ab 10 Uhr
Teil 3: »Die Mutige Mehrheit«, deutschlandweit ab 31.10.2021
Ebenfalls im Theaterhaus Jena im Rahmen von »KEIN SCHLUSSTRICH!«: »Sladek« (Premiere am 04.11.2021)
Weitere Informationen sowie Karten sind erhältlich unter www.theaterhaus-jena.de