Das Patentrezept für jeden müßigen Wintertag? Ein behagliches Plätzchen, eine warme Kanne Tee und natürlich: ein gutes Buch. Sollte es Ihnen dabei noch an geeignetem Lektürematerial mangeln, wir hätten da noch ein paar Leseempfehlungen – die wir gern mit Ihnen teilen.
An den Kern der Dinge kommen: Jón Kalman Stefánssons „Das gelbe U-Boot“
Jón Kalman Stefánsson zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsschriftstellern Islands. Wirklich zielstrebig verlief seine Berufslaufbahn nicht: Um sich sein Auskommen zu finanzieren, arbeitete er zunächst mehrere Jahre in der Fischindustrie, dann als Maurer und als Polizist, schließlich noch als Deutschlehrer und Leiter einer Stadtbibliothek, bevor ihm mit 2009 endlich mit seinem Roman „Himmel und Hölle“ der internationale Durchbruch gelang. Seither läuft es wie geschmiert für den 1963 in Reykjavík geborenen Isländer. Seine fulminanten Romanveröffentlichungen werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, Jón Kalman Stefánsson selbst 2018 gar für den alternativen Literaturnobelpreis nominiert, sein zwölfter Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ 2022 als bester ausländischer Roman des Jahres mit dem französischen „Prix du Livre étranger“ ausgezeichnet und in Deutschland wiederum mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis 2023 geehrt.
Auch mit seinem unlängst erschienenen 13. Roman „Mein gelbes U-Boot“ beweist Jón Kalman Stefánsson einmal mehr sein großes Talent, von den großen Dingen des Lebens – vom Leben, von Verlusten, von Liebe, Tod und Hoffnung – zugleich berührend und mitreißend zu erzählen: Ein Schriftsteller trifft in einem Londoner Park auf den greisen Paul McCartney, der dort Schutz sucht vor der Sonne, der Hitze, dem ewigen Ruhm. Die einmalige Gelegenheit nutzen wollend, entschließt sich der Mann, den Ex-Beatle anzusprechen – doch die Erinnerung an die eigene, vom frühen Tod der Mutter geprägte Vergangenheit funkt ihm dazwischen: Als er ein Kind war, war sie es, die ihm auf der Mundharmonika lehrte „Yellow Submarine“ zu spielen. Einen Song, der vom Verlangen nach „Phantasiewelten, wo uns die Forderungen der Welt und ihre Schläge nicht erreichen“ handle. Doch dann wird sie krank, stirbt unversehens, versetzt ihrem sechsjährigen Sohn damit einen ‘Schlag‘, von dem er sich ein Leben lang nicht wirklich zu erholen vermag. Der Vater flieht in den Alkohol, der Junge wiederum ins Buch der Bücher, findet dort aber nur einen jähzornigen Gott, der sich als genauso fehlbar erweist wie der durch den Alltag schwankende Vater. Dass irgendwann eine Stiefmutter in ihre Wohnung einzieht, macht das Leben nicht einfacher. Die neue Frau seines Vaters bringt ihn in den Ferien zu Verwandten weit oben im Norden Islands. Dort bekommt er ein Zimmer, das nur ein Fenster zum Friedhof hat. Tagsüber spaziert der Junge zwischen den Grabsteinen, liest die Namen der Toten, nachts lässt er sich von den Geistern deren Lebensgeschichten erzählen. Zuflucht, so lernt er schnell, findet er vor allem in seiner eigenen Phantasie – und eben auch bei den sanften Klängen der Beatles. Verwundern tut es so kaum, dass er sich die einzigartige Gelegenheit, den alten Paul McCartney anzusprechen, nicht entgehen lassen will…
„Mein gelbes U-Boot“ ist ein klassischer Entwicklungsroman, prosaische Ode an die Kraft der Phantasie und überbordende Hommage an Paul McCartney in einem. In surrealen, traumartigen Sequenzen jongliert Stefánsson mit Zeiten und Orten, lässt seinen namenlosen Ich-Erzähler durch die eigene Vergangenheit und Gegenwart, immer wieder aber auch durch jene Islands mäandern, verbindet spielerisch Ereignisse mit Erinnerungen, Vergessen und Phantasie, Wunder und Alltäglichkeit, um all den Dingen, die das Leben ausmachen, auf den Grund zu gehen. Begleitet von den Beatles, die im imaginären Linienbus ins westisländische Strandir sitzen und „You and I have memories, longer than the road that stretches out ahead“ singen – und doch nie ein Ende der Straße, ein Ziel erreichen werden…
Jón Kalman Stefánsson: „Mein gelbes U-Boot“
Piper-Verlag, 367 S. (geb.)