Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:
Maggie O’Farrell: »Judith und Hamnet«
Sinnliche Reise ins Elisabethanische Zeitalter
Die nordirische Schriftstellerin Maggie O’Farrell widmet sich in ihrem historischen Roman „Judith und Hamnet“ auf ergreifend gefühlvolle Weise dem Verlust eines Kindes in einer ganz besonderen englischen Familie.
In einem Vater-Mutter-Kind-Familiengefüge gibt es eigentlich kaum eine denkbar tragischere Situation als wenn ein oder mehrere Familienmitglieder ‚vor der Zeit‘ aus dem vertrauten, kompletten Gefüge gerissen werden und in der Folge Witwen, Witwer, Waisen und – wie nennt man jemanden, der einen Bruder, eine Schwester oder gar seinen Zwilling verliert? – hinterlassen, die nun gezwungen sind, mit der entstandenen Leerstelle zurechtzukommen und die losen, zerrissenen Enden des Familienverbunds jeder für sich und alle gemeinsam wieder zusammenzufügen.
Die beiden titelgebenden Figuren von Maggie O’Farrells Roman sind eben solch gleichaltrigen Geschwister, überdies eineiige Zwillinge und: die historisch verbürgten Kinder William Shakespeares und seiner Frau Anne Hathaway. Bevor Sie jetzt mit dem Gedanken ‚Nicht noch eine weitere Shakespeare-Biographie!‘ abwinken, lassen Sie sich versichern: In „Judith und Hamnet begleitet der vielgerühmte Dramatiker nur eine Nebenrolle; genau genommen wird sein Name im gesamten Text nicht einmal genannt. Präsent ist er natürlich dennoch – als schmächtiger Sohn eines zu Gewaltausbrüchen neigenden Handschuhmachers, als noch fast jugendlicher Lateinlehrer, als erfolgreich um Gunst und Liebe Werbender und als Familienvater von insgesamt drei Kindern, die er aufgrund seiner vielen ‚Dienstreisen‘ viel zu selten sieht.
Erzählt werden diese frühen Lebensstationen des Privatmanns William Shakespeare aus der Perspektive seiner Kinder und insbesondere aus dem Blickwinkel seiner Frau Anne Hathaway, die hier im Buch unter dem Namen Agnes (also jenem Namen, der auch im Testament ihres Vaters steht) auftritt und von O’Farrell zu der zentralen, überaus faszinierenden Figur des Romans herausgeformt wird. Agnes, Tochter eines Schäfers, die einen gezähmten Falken zum Begleiter hat, Heilerin ist, Kräuterfrau und Seherin und überhaupt ein ziemlicher eigensinniger Freigeist, die in ihrer kleinstädtischen Umgebung als Außenseiterin gilt und von ihren Mitmenschen hinter vorgehaltener Hand auch schon mal als Hexe bezeichnet wird. Womit Agnes durchaus leben kann, ebenso mit dem Umstand, dass sie acht Jahre älter ist als ihr Mann und dieser immer öfter in der Hauptstadt weilt, weil er nicht gewillt ist, das Handschuhmacher-Geschäft seines Vaters zu übernehmen, sondern sich lieber als Stückeschreiber an Londoner Bühnen versuchen möchte. Doch dann bricht das Jahr 1596 an und mit diesem der Schwarze Tod über England herein, der großen Schmerz für die noch junge Familie mit sich bringt: Judith, die Zwillingsschwester, von der Pest befallen, aber zum Weiterleben bestimmt, seine Mutter, die ältere Schwester, sogar die Großmutter sind daheim, als der Schwarze Tod sich Shakespeares Sohn Hamnet holt, nur jener selbst weilt wie so häufig gerade Meilen und Tage entfernt in der Hauptstadt und kommt erst heim nach Stratford-upon-Avon, als sein Sohn längst begraben ist. Um dann sogar alsbald und viel zu früh wieder abzureisen, weil seine Theatergruppe auf ihn wartet. Agnes stürzen diese Geschehnisse in eine schwere Lebens- und Ehekrise, aus der sie erst gut fünf Jahre später wieder herausfinden soll. Zunächst voller Skepsis reist sie nach London, um der Premiere eines neuen Stücks ihres Mannes beizuwohnen – und vor Ort tief berührt zu erkennen, dass der Tod ihres gemeinsamen Sohnes William Shakespeare genauso getroffen hat wie sie selbst, dieser seine Schmerz über den Verlust jedoch auf ganz andere, ureigene Weise verarbeitet hat: mit der Erschaffung von „Hamlet“.
Entlang der wenigen historisch verbürgten Fakten, die über William Shakespeares Familie und seine jungen Jahre bekannt sind, hat Maggie O’Farrell einen Roman mit einem überaus anschaulichem zeithistorischem Kolorit verfasst, der sich angesichts der eigentlich einer vermeintlich eher schweren Thematik – Schicksal, Trauer, Schmerz, Zusammenhalt – erstaunlich zugänglich und lebendig liest. Dies ist zum einen O’Farrells einnehmend gefühlvoller und mitunter in den magischen Realismus überschwappender Erzählweise, zum anderen aber auch ihrer herausragenden Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt der einzelnen Figuren hineinzuversetzen, zu verdanken. Wobei sie höchst trotz aller Sinnlichkeit, die der Roman zu offenbaren weiß, angenehmerweise sämtlichen Verlockungen der Kitschschublade zu widerstehen weiß. Dafür gab‘s den renommierten „Women’s Prize for Fiction 2020“, viel Kritikerlob und jede Menge begeisterte Leserinnen und Leser. Zu denen auch wir uns gern zählen.