Winterzeit ist Lesezeit. Teil 5

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Das Patentrezept für jeden müßigen Wintertag? Ein behagliches Plätzchen, eine warme Kanne Tee und natürlich: ein gutes Buch. Sollte es Ihnen dabei noch an geeignetem Lektürematerial mangeln, wir hätten da noch ein paar Leseempfehlungen – die wir gern mit Ihnen teilen. 

Intensiv und wirkmächtig: Reinhard Kleists „Low“ und Hannah Brinkmanns „Zeit heilt keine Wunden“

Schon seit einigen Jahren werden Biografien bekannter oder berühmter Personen des öffentlichen Lebens nicht nur in Filmen und Büchern vermittelt, sondern vermehrt auch in Graphic Novels. Wie sich zeigt, scheint das spezielle Literaturgenre scheint hierfür auch wie gemacht, vereint es das visuelle Element des Films doch in geradezu idealtypischer Weise mit den Möglichkeiten, die das ‘geschriebene Wort‘ erlaubt. Erstklassige Beispiele hierfür bilden auf jeweils ureigene Weise zwei unlängst erschienene Comic-Biografien: „Low“ von Reinhard Kleist und „Zeit heilt keine Wunden“ von Hannah Brinkmann.

Reinhard Kleist, Autor verschiedener preisgekrönter Comicbiografien wie etwa „Cash – I see a darkness“ oder „Nick Cave“, veröffentlichte bereits vor drei Jahren eine Graphic Novel-Biografie, in der er dem englischen Jahrhundertmusiker David Bowie ein aufsehenerregendes zeichnerisches Denkmal setzte. Nach „Starman – The Ziggy Stardust Years“, in dem er kongenial vom Aufstieg David Bowies in der Londoner Musikszene Anfang der 1970er Jahre vom Underdog zum androgynem Rock’n’Roll-Messias Ziggy Stardust nacherzählt, widmet sich Reinhard Kleist nun in „Low“ Bowies Berliner Jahre.

Reinhard Kleist: „Low. David Bowie’s Berlin Years“
Carlsen Verlag, 176 Seiten (geb.)
Bild: Verlag

1976: David Bowie, der Superstar des Pop, ist auf dem Höhepunkt seines Ruhms angelangt – leider auch auf dem seiner Drogensucht. Von Paranoia und Starrummel zerrüttet, flieht er aus dem grellen Los Angeles nach West-Berlin. Ausgerechnet nach West-Berlin – eine Stadt, in der jeder Gang früher oder später an der die Stadt umschließenden endet. Ausgerechnet hier sollte sich Bowie frei fühlen wie nie – und es ihm gelingen, sich von seiner Drogensucht zu befreien, ja, gar zu sich selbst zu finden. Mit viel Zeitkolorit und jenen elegant-treffsicheren, flamboyant-farbenfrohen Zeichnungen, die so typisch für ihn sind, schildert Reinhard Kleist, wie Bowie sich ausgehend vom anonymen Bezug einer Sieben-Zimmer-Altbauwohnung in Schöneberg kopfüber ins Berliner Gestern, Heute und Morgen stürzt: Mit der Transgender-Ikone Romy Haag erkundet er die Dekadenz der wilden Zwanziger. Mit Iggy Pop, der mit ihm nach Berlin gekommen war und im selben Haus eine Nachbarwohnung bezogen hatte, taucht er ein in die Musik von Kraftwerk und Tangerine Dream. Und in den Hansa Studios im Schatten der Berliner Mauer erwächst dem Geist der Vergangenheit schließlich mit dem Album „Low“ seine bis dahin visionärste Musik. Hier, im Berlin der 1970er Jahre, streift er all seine vorherigen Persönlichkeiten (Ziggy Stardust, Starman, Halloween Jack, der Thin White Duke) ab und wird endlich zu David Bowie …

Kleists „Low“ ist wie schon der erste Teil der Bowie-Biografie eine kongenial bebilderte, inhaltlich komplex und tiefgründig erzählte Graphic Novel, die Fans von David Bowie und Graphic-Novel-Liebhaber*innen gleichermaßen begeistern wird. Eine klare Empfehlung!

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Hannah Brinkmann mag in der Comic-Szene noch keinen so großen Namen wie Reinhard Kleist haben, erste Meriten kann aber auch sie bereits vorweisen. Viel Aufmerksamkeit kam 2020 ihrer ersten Graphic Novel „Gegen mein Gewissen“ zu, nach mehreren Comic-Kurzgeschichten folgt nun ihre zweite Graphic-Novel-Langerzählung. „Zeit heilt keine Wunden” erzählt in bewegenden Bildern die Lebensgeschichte des Shoah-Überlebenden Ernst Grube nach, dessen bewegten Lebensweg die 34-Jährige zusammen mit dem 91-jährigen Zeitzeugen recherchiert und aufgearbeitet hat. 

Hannah Brinkmann: „Zeit heilt keine Wunden. Das Leben des Ernst Grube“
avant verlag, 264 Seiten (geb.)
Bild: Verlag

„Mischlinge ersten Grades“ – so wurden nach den Nürnberger Rassengesetzen jene Kinder genannt, die ein jüdisches Elternteil haben. So auch Ernst Grube. Seine Familie befand sich während der Nazi-Herrschaft im ständigen Kampf ums Überleben. Anfang 1945 wird der Junge schließlich mit einem der letzten Transporte ins Konzentrationslager nach Theresienstadt deportiert und wenig später von der Roten Armee befreit.

Nach dem Krieg engagiert sich Ernst Grube als Heranwachsender in der kommunistischen Bewegung der BRD, was so manch Vertretern der Justiz gar nicht schmeckt. Grube wird wegen seiner politischen Aktivität verurteilt und inhaftiert. Vor dem Bundesgerichtshof steht Ernst Grube dem Richter Kurt Weber gegenüber, einst Erster Staatsanwalt unter den Nazis. In der noch jungen Bundesrepublik ist jener Vertreter einer Justiz geworden, die unverhohlen durchsetzt von antikommunistischen Tendenzen immer wieder völlig unverhältnismäßige Urteile fällt. 

„Zeit heilt keine Wunden” ist eine virtuos erzählte Graphic Novel-Hommage an Ernst Grube, der sich als Aktivist auch heute noch unermüdlich für eine offene und tolerante Gesellschaft, insbesondere aber auch für einen kritische Auseinandersetzung mit den NS-Hinterlassenschaften der Nachkriegszeit einsetzt. Darüber hinaus aber auch die Erzählung einer Lebensgeschichte, die zeigt, dass manche Verletzungen einfach nicht heilen können – gerade dann, wenn die Vergangenheit Teil der Gegenwart bleibt… Ernste und aufwühlende, aber durchweg lohnenswerte Graphic Novel.

Reinhard Kleist: „Low. David Bowie’s Berlin Years“
Carlsen Verlag, 176 Seiten (geb.)

Hannah Brinkmann: „Zeit heilt keine Wunden. Das Leben des Ernst Grube“
avant verlag, 264 Seiten (geb.)