Das Patentrezept für jeden müßigen Wintertag? Ein behagliches Plätzchen, eine warme Kanne Tee und natürlich: ein gutes Buch. Sollte es Ihnen dabei noch an geeignetem Lektürematerial mangeln, wir hätten da noch ein paar Leseempfehlungen – die wir gern mit Ihnen teilen.
Reise ins Ungewisse: Maylis de Kerangal „Weiter nach Osten“
Maylis de Karangal gilt in Frankreich bereits seit langem als Anwärterin für den bedeutendsten Literaturpreis, den Prix Goncourt. Ihr 2010 erschienener Roman „Die Brücke von Coca“ wurde immerhin schon mit dem Prix Médicis ausgezeichnet und auch „Die Lebenden reparieren“ wurde mehrfach ausgezeichnet, 2016 schließlich sogar verfilmt. In Deutschland ist der Pariserin allerdings bislang noch der ganz große Durchbruch verwehrt geblieben. Ändern könnte sich dies vielleicht mit einem zwar gerade einmal 90 Seiten umfassenden, aber enorm intensiven und überdies erstaunlich aktuellen Roman, der jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt: „Weiter nach Osten“.
Im Original bereits 2012 erschienen, erzählt der kompakte Roman von Aljoscha, einem 20-jährigen Moskauer, der als Zwangsrekrut verpflichtet, einen Zug besteigt, der für alle Normalreisenden mit einem großen Zauber versehen ist, bei ihm jedoch nur mit Angst und Schrecken auslöst: die Transsibirische Eisenbahn. Während alle Normalreisenden wissen, wohin für sie in dem legendären zwischen Moskau und Wladiwostok verkehrenden Zug die Reise geht, weiß Aljoscha wie auch der Rest der Kompanie von mehr als hundert Rekruten, die hier ein Abteil der dritten Klasse betritt, nicht einmal ansatzweise, welches Ziel genau sie ansteuern. Klar ist für sie nur eines: Es geht in eine Kaserne nach Sibirien, für zwei Jahre. Grundausbildung. Schikanen und Torturen inklusive.
„Aljoscha hat Schiss, sein Herz hämmert in der Brust“, heißt es im Buch, „und so wie der Zug mit konstanter Geschwindigkeit vorwärtsrollt, nimmt das Entsetzen des Jungen zu: Am Ende der Schienen wird die Kaserne stehen.“ Aljoscha graut es vor dem Leben, das ihn am Ende der Bahnfahrt so sehr, dass er beschließt zu, an einem der Zwischenhalte zu fliehen. Ein erster Fluchtversuch in Krasnojarsk scheitert – die russische Armee lässt ihre Rekruten zu gut bewachen. Während der junge Rekrut weiter über sein Verhängnis grübelt und auf dem Gang in die endlosen Weiten der sibirischen Nacht hinausstarrt, taucht eine Frau auf, neben ihm am Fenster auf. Hélène, Französin, Mitte 30, hat die Transsibirische Eisenbahn genommen, um einer verunglückten Liebesbeziehung zu entkommen. Sie spricht kaum Russisch, Aljoscha nichts anderes als Russisch, um wortlos miteinander zu rauchen und zu trinken reicht die Verständigung jedoch ohne weiteres aus. Irgendetwas entspinnt sich zwischen den beiden auf der nächtlichen Fahrt – und veranlasst Hélène, den auf sie einredenden, offensichtlich sie um Hilfe anflehenden jungen Rekruten mit in ihr Erste-Klasse-Abteil zu nehmen, ihn vor den uniformierten Häschern, die bald auftauchen werden, zu verstecken.
Und so geraten beide – während der Zug immer weiter gen Osten rollt – in ein sich an Spannung stetig steigerndes Katz- und Mausspiel, bei dem es bis zum Schluss nicht gewiss ist, ob Aljoscha nicht doch noch entdeckt wird. Maylis de Kerangals Roman ist packend – und eine erzählerische Augenweide, weil sie sich immer wieder auch die Zeit nimmt, den Blick weg von Aljoscha, Hélène und ihren Häschern zu richten, hinaus auf die Landschaft, die diese im soghaften Takt der Bahnschwellen durchmessen. Endlose Wälder, der Baikalsee, der Jennisej, der Amur, am Ende schließlich der Pazifik. So erfahren wir als Lesende nicht nur eine atemlos spannende Geschichte, an dessen Ende möglicherweise tatsächlich ein kleines Stück Glück zu warten scheint, sondern obendrein auch ein herrlich nachgezeichnetes Bahnreiseabenteuer. Lohnt sich.
Maylis de Kerangal: „Weiter nach Osten“
Suhrkamp, 91 Seiten (geb.)