Winterzeit ist bekanntlich Lesezeit. Ein behagliches Plätzchen, eine Kanne warmen Tee und ein gutes Buch – mehr braucht es häufig nicht, um es sich in der dunklen Jahreszeit gut gehen zu lassen. Grund genug, Sie hier zusätzlich zu den allmonatigen Büchertipps unserer Printausgabe noch mit ein paar zusätzlichen Leseempfehlungen zu versorgen.
Kiew anno 1920: Andrej Kurkows „Samson und das gestohlene Herz“
Gut ein Jahr nach dem ersten Band seiner neuen Krimireihe ist bei Diogenes nun auch der zweite Teil von Andrej Kurkows Mehrteiler-Geschichte um den jungen Polizisten Samson erschienen. Es sind wilde, von Revolution und Umbruch geprägte Zeiten, in denen dieser lebt: Man schreibt das Jahr 1920, noch immer ist Bürgerkrieg in der Ukraine. Sowjetische Bolschewiken kämpfen gegen Konservative, Demokraten, gemäßigte Sozialisten, Nationalisten und Weiße Armee. Ein Jahr zuvor hatten die Bolschewiken die Stadt Kiew erobert. Bei einem winterlichen Spaziergang durch die Stadt wurde Samson damals von marodierenden Kosaken nicht nur der Vater erschlagen, sondern ihm auch das rechte Ohr abgesäbelt. Zu seinem eigenen Erstaunen funktioniert dieses jedoch seitdem auch im ‘gelösten‘ Zustand weiterhin tadellos, selbst wenn er nicht am gleichen Ort ist. Was ihm, Samson, der kurz darauf als Mitarbeiter der sowjetischen Miliz verpflichtet wird, dann irgendwie ganz gelegen kommt, als er die Aufgabe überantwortet bekommt, einen mysteriösen Mordfall zu lösen. Mehr noch, irgendwie hilft ihm das ‘Ohr in der Dose‘ sogar ein ganzes Stück weit, die beherzt-kluge Nadjeschda, Mitarbeiterin im Amt für Statistik, für sich zu gewinnen – und diese davon zu überzeugen, bei ihm dauerhaft einzuziehen.
Eingangs von „Samson und das gestohlene Herz“ ist seit diesen Geschehnissen noch nicht viel Zeit vergangen. Die Roten regieren weiterhin die Stadt, Kiew ist voller Willkür – und Hunger. Lebensmittel sind rationiert, das private Schlachten und der Verkauf von Fleisch vom Oprodgudkom, einer von der neuen Regierung installierte Sonderkommission für Lebensmittelfragen, verboten worden. Gleichzeitig boomt der Schwarzmarkthandel. Nicht von ungefähr kommt es daher, dass Samson sich im neuen Kurkow-Band nunmehr auch mit derartigen Fällen befassen muss. Doch Zeit und Aufmerksamkeit, sich mit den ihm aufgetragenen Ermittlungen im Fleisch-Schwarzhandel zu befassen, findet er kaum: Aus ihm unerfindlichen Gründen wird Nadjeschda, seine Geliebte, die er dieser Tage doch eigentlich endlich zum Traualtar führen will, von streikenden Eisenbahnern gefangen genommen und entführt. Da bleibt Samson nichts anderes, als gleichzeitig an zwei Fronten sein Bestes zu geben…
Wie schon in „Samson und Nadjeschda“ zeigt sich auch in „Samson und das gestohlene Herz“ recht schnell, dass es Autor Andrej Kurkow in seiner neuen Krimireihe gar nicht so sehr darum geht, die Leserschaft hier mit verzwickten Kriminalfälle voller wilder Action- oder nervenaufreibender Spannungsszenen bei Laune zu halten. Seine Kriminalfälle sind in der Tat eher unspektakulär – dafür sein Blick auf das Kiewer Alltagsleben von 1919/1920, in das Samsons Ermittlungsarbeiten eingebettet ist, dafür umso virtuoser, detaillierter, liebevoller. Und natürlich stets auch von dem satirisch-ironischen, tragikomischen, ja immer wieder fast märchenhaft anmutenden Tonfall geprägt, für den Kurkow so bekannt ist und der einen mal an die Erzählweise eines Nikolai Gogol, mal an die eines Michael Bulgakow erinnert. Unterm Strich eine erstklassige Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte und Krimi, die schon jetzt Vorfreude auf den angekündigten dritten Band weckt.
Andrej Kurkow: „Samson und das gestohlene Herz“
Diogenes, 432 Seiten (geb.)