Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Ralf Rothmann: »Hotel der Schlaflosen«

Geschichten voller dunklem Glanz

Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“ Suhrkamp Verlag, 206 Seiten (geb.)

Ralf Rothmann hat für seine Romane „Milch und Kohle“, „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ in den vergangenen Jahren viel wohlverdiente Aufmerksamkeit bekommen und sich nach und nach einen der oberen Ränge unter den wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller erobert. Mit „Hotel der Schlaflosen“ hat er jetzt einen ersten Erzählband veröffentlicht, dessen Geschichten in dunklem Glanz erstrahlen.

Zugegeben: Für die Geschichten, die Ralf Rothmann in diesem Buch ausbreitet, gibt es keine richtige Jahreszeit, „Hotel der Schlaflosen“ ist lässt sich in keiner der vier Jahreszeiten ‚perfekt‘ unterbringen. Lesbar, ja in seiner sprachlichen Virtuosität sogar nachdrücklich empfehlenswert lesbar ist der Erzählband dennoch, nur sollte man angesichts jener Reise ins Herz der Finsternis, auf die man sich hier begibt, keine beschwingt fröhlichen Zeilen erwarten. Es sind mal unerwartete, mal zwangsläufige Situationen, mit denen Rothmann die Figuren seiner Erzählungen konfrontiert: existentielle Problemstellungen, grundsätzliche Lebensfragen, die einen nächsten, grenzüberschreitenden Schritt einfordern, der kein Zurück mehr erlaubt, verfahrene Umstände mit Zwang zur Handlung, aber ohne erkennbaren Ausweg, ohne Hoffnungszeichen. Geschichten, die Schockmomente bereithalten und die Seele erschüttern – mal im kleinen und mal im großen, grenzüberschreitend drastischen Maßstab. Wie etwa in jener titelgebenden Geschichte „Hotel der Schlaflosen“, dem dunklen Zentrum des Buchs, in der wir ins Jahr 1940 und in den Kopf des skrupel- und gewissenlosen sowjetischen Geheimdienstoffiziers und Henkers Wassili Blochin hineinversetzt werden, der als Handlanger Stalins mehr als 10.000 Menschen hingerichtet haben soll. In einem Moskauer Kellergewölbe sitzt dieser Blochin, und wir in seinem Kopf, mit seiner Ich-Perspektive, dem bereits schwer misshandelten Isaak Babel gegenüber, jenem jüdischen Schriftsteller, der mit seiner schonungslosen Kriegschronik „Die Reiterarmee“ bei der Sowjetmacht in Ungnade gefallen war – und ‚uns‘ fällt nichts besseres ein als den Todgeweihten um eine Autorensignatur zu bitten, bevor wir ihn routiniert, wie so viele andere zuvor anschließend per Genickschuss hinrichten. 

Variationen der Angst

Es ist das Spiel mit der Angst, das Rothmann in dieser moralisch zweifellos diabolischsten Geschichte des Erzählbandes bis zum perfiden Extrem ausreizt und – in weniger abgründigen Schattierungen, Variationen und Spielarten – auch in die dieser nachfolgenden zehn Geschichten als zentrales, alles verbindendes Motiv einflechtet. Das Ensemble der Protagonisten ist dabei so vielfältig wie gleichsam gefangen in unterschiedlichen Situationen schierer Schicksalshaftigkeit. Da gibt es die sterbenskranke Musikerin, die sich mit dem Taxi durch das Berlin ihrer Kindheit fahren lässt, den aufbrausenden Polier auf dem Bau, der inständig darauf hofft, seinen jungen Gesellen mit der eigenen gehbehinderten Tochter zusammenzubringen, den Bestatter, der in einer Zeche die perfekt konservierte Leiche seines Vaters entdeckt, welcher dort mehrere Jahrzehnte zuvor bei einem Grubenunglück ums Leben gekommen ist. Eine Frau, die nicht anders kann, als ewig das Opfer elterlicher Gewalt zu bleiben, einen ergrauten Lehrer, der bei einer Panne mitten in der Wüste endlich versteht, was Liebe ist, Vater und Sohn, die auf dem Weg zum Spielzeugladen von einem verwirrten Mann im Morgenmantel mit einer Waffe bedroht werden. All diese Figuren erleben existentielle Momente und individuelle Angstzustände, auf die sie in unterschiedlicher Weise reagieren, in jedem Fall jedoch einen oder mehrere Schritte aus ihrem gewohnten Dasein hinaustreten müssen – auch wenn ihnen vom Autoren wenig Anlass zur Hoffnung eingeräumt wird.

Präzise und behutsam ausgerollte Schicksalsfäden

Dabei ist es geradezu phänomenal, auf welch zurückhaltende, auf das rein äußerliche und gänzlich urteilsfreie Beschauen beschränkte Weise Ralf Rothmann diese vom Schicksal geforderten Figuren in ihrem Tun und Handeln begleitet. Sie angesichts der Daseinsproblematiken, mit denen sie konfrontiert sind, das tun und handeln lässt, was sie tun ‚müssen‘, ohne über sie zu urteilen – selbst wenn ihnen die Rolle des Antihelden zukommt. Dies mit einer Sprache, die wie auch in seinen Romanen häufig poetisch, nie jedoch überladen oder gar verkitscht wirkt und jeden einzelnen der ausgerollten Schicksalsfäden so behutsam und präzise umfasst, dass diese trotz mancher Ungeheuerlichkeit, die sie offenbaren, in ihrem dunklem Glanze geradezu noch an Intensität gewinnen. Elf starke Geschichten über Ängste, Liebe, Leben und Tod, mit denen Ralf Rothmann zweifellos beweist, dass er die Kurzgeschichte genauso gut beherrscht wie die erzählerische Langform eines Romans, darüber hinaus ein weiteres Mal bestätigt, dass er unbedingt und weiterhin zu den wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren gezählt gehört.