Lesestoff für die Frühlingszeit

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Mit dem anhaltenden Lockdown ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände weiterhin empfindlich eingeschränkt – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Francis Nenik: »Tagebuch eines Hilflosen« & Duncan Hannah: »Dive«

Faszinierende literarische Zeitzeugnisse

Francis Nenik: „Tagebuch eines Hilflosen“
Matthes & Seitz, 1020 Seiten (geb.)

Müsste man die präsidiale Amtszeit Donald Trumps in Seitenzahlen bemessen, so ließe diese sich leichthin auf 1.020 Seiten eingrenzen. Exakt diesen Umfang weist das kürzlich erschienene „Tagebuch eines Hilflosen“ von Francis Nenik auf – ein literarisches Zeitdokument der besonderen Art. Denn wie es der Titel schon erahnen lässt, ist dieses Tagebuch nicht etwa bloß eine weitere rückblickende, auswertende Betrachtung Trumps, vom Ende her erzählt, sondern vielmehr eine wahrscheinlich einzigartige Form der Quasi-Live-Dokumentation. Beginnend am Tag der Amtseinführung und erfüllt von einer gewissen Vorahnung hat Nenik den wohl absonderlichsten Präsidenten der US-amerikanischen Geschichte täglich mit dem Stift in der Hand begleitet. Dies ergibt in der Summe 1.491 tagesaktuelle Einträge über vier Jahre hinweg, die zwar nahezu sämtliche ‘Glanzpunkte‘ der Trumpschen Amtszeit festhalten, in denen sich der Autor zum Glück jedoch nicht alleinig mit dem Präsidenten und seinem Tun und Wirken befasst. Mit erstaunlich umfangreichen Kenntnissen zu Geschichte, Politik und Kultur widmet sich der Tagebuchschreiber immer wieder auch vermeintlich abseitigen Themen der amerikanischen Gesellschaft, die ihm in den Sinn kommen, vertieft spontane Gedankengänge zu historischen Ereignissen in literarischen Essays, gräbt sich durch Archivmaterialien oder Behördendokumente, um strittigen Debatten einen eigenen Standpunkt hinzuzufügen. Alles aus Sicht des Literaten, der das Geschehen jenseits Atlantischen Ozeans in seiner ‘Hilflosigkeit‘ zwar nicht beeinflussen, aber mit nie nachlassender Faszination beobachten kann. Und das macht er ziemlich überzeugend. Ein Buch, welches das Zeug hat, in zwei-drei Dekaden der Reifung noch einmal ganz neue Lesefreuden zu erwecken.

Duncan Hannah: „Dive. Tagebuch der Siebziger“
Rowohlt Berlin, 560 Seiten (geb.)

Dies vermag auch Duncan Hannahs soghafter, tagebuchartig angelegter Entwicklungsroman „Dive“ über das New York der 1970er. Mit Anfang 20 verschlägt es Hannah 1971 in die Ostküsten-Metropole, hier will er Kunst – und mehr noch das (Nacht)Leben der Stadt studieren. Mit Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll im Kopf sowie gottgegeben brillantem Aussehen und dandyhaftem Auftreten ist er bald mittendrin in jener glamourösen Boheme, die heute Legende ist – und lässt sie nun romanhaft wieder auferstehen: Mal hängt er mit Andy Warhol auf exklusiven Partys ab, mal mit Bryan Ferry, David Bowie oder gleich allen dreien. Mit Debbie Harry dreht er mehrere Filme, mit David Hockney philosophiert er über das Leben und die Kunst und mit Lou Reed, nun mit Lou Reed läuft’s zumindest so lange gut wie dieser ihm nicht an die Wäsche will. Viel ausgelassen hat Hannah in jenem wilden Jahrzehnt nicht, davon zeugen all die in einem stakkatoartigen Tempo erzählten kleinen und großen Anekdoten, die in „Dive“ Eingang gefunden haben – und an dessen Ende der Autor, beinahe einem Wunder gleich, noch immer solide auf beiden Beinen steht und selbst zum geerdeten Künstler herangereift ist. Großartige Zeitreise!