Jedes Türchen ein Pläsierchen: Der Stadtmagazin 07-Adventskalender –

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Sie brauchen dieser dunklen Tage mal wieder frische Lektüreideen? Wissen wieder einmal nicht, was verschenken an Weihnachten? Ein Buch geht immer – und Vorschläge haben wir reichlich. Bis zum 24. Dezember öffnen wir hier täglich ein weiteres Türchen, um Ihnen eines jener Bücher mit dem besonderen Etwas vorzustellen, die dieses Jahr das Licht der Welt erblickt haben. Kommen Sie mit uns auf Adventslese – möglicherweise werden Sie ja fündig. Hinter Türchen Nr. 19 zum Vorschein kommt:

Markus Ostermair: »Der Sandler«

Markus Ostermair: „Der Sandler“
Büchergilde Gutenberg, 376 Seiten (geb.)

Unter Unsichtbaren

Nein, „Der Sandler“ ist kein Wohlfühl-Roman, kein Weihnachtsroman und auch kein Roman, der eine wunderbar phantastische Geschichte entrollt, mit der man dem eigenen Alltag vorübergehend entfliehen kann. Dieser Debüt-Roman des Autors Markus Ostermair taucht vielmehr genau in diesen unseren Alltag ein, leuchtet Ecken aus, die wir für gewöhnlich und wenn überhaupt, nur im Augenwinkel wahrnehmen, ansonsten und solange wir nicht selbst davon betroffen sind, vielmehr einem Tabuthema gleich ausblenden: Obdachlosigkeit inmitten unserer Wohlstandsgesellschaft. Es sollen zwischen 50.000 und 85.000 Menschen sein. Allein in Berlin leben nach Schätzungen der Wohlfahrtsverbände zwischen 6.000 und 10.000 Menschen auf der Straße, in Hamburg sind es zwischen 4.000 und 5.000 und in München dürfte deren Zahl ohne Zweifel ebenfalls im mittleren vierstelligen Bereich liegen.

Eben hier, auf den Straßen Münchens, breitet Autor Markus Ostermair, der die Obdachlosen-Szene der bayerischen Metropole während seiner Zeit als Zivildienstleistender in der Bahnhofsmission aus unmittelbarer Nähe kennengelernt hat, auch die Handlung seines Romans aus. In deren Zentrum stehen vier ProtagonistInnen, die völlig unterschiedliche Schicksalswege zu einem Leben auf der Straße bewegt haben. Karl Maurer etwa war einst Mathematiklehrer. Nach einem furchtbaren Unfall fand er nicht mehr ins ‘alte‘ Leben mit Frau und Tochter zurück, streift nun geplagt von Bildern aus der Vergangenheit durch die Straßen der Stadt. Dort, auf den Straßen, zwischen Bahnhofsmission, Suppenküche und Kleiderkammer, sucht sein schwerkranker Freund Lenz, ein äußerst belesener Idealist und notorischer Kapitalismuskritiker nach Karl, um diesem seinen Wohnungsschlüssel zu vermachen und damit eine Tür bzw. vielleicht letzte Perspektive für einen Neustart, eine lebenswertere Zukunft zu weisen. Gleichzeitig sucht auch der frisch aus der Haft in die Obdachlosigkeit entlassene Kurt eine Bleibe und wittert bei Lenz gute Chancen während die psychisch lädierte, in einem Tunnel aus Wut und Selbstverachtung lebende Mechthild sich Beratungsgesprächen, um den sozialen Wiederanschluss zu meistern und Aussichten auf eine eigene Bleibe zu erhalten, immer wieder entzieht, weil sie einfach nicht mehr kann…

In sechs Tagen und sechs Nächten schildert „Der Sandler“ die sozialen und seelisch-psychischen Alltagsrealitäten der Betroffenen, in denen Misstrauen, Ausgrenzung und Gewalt, Alkohol, und Langeweile, Scham und das Gefühl, unsichtbar zu sein, die Suche nach einem Schlafplatz und ein fortwährender Zustand der Unruhe und Angst dominieren. Autor Ostermair, der diesen Roman über acht Jahre hinweg schrieb und umschrieb, erweist sich dabei nicht nur als ein formidabler Beobachter der Lebenswelten seiner ProtagonistInnen mit all ihren Details und in all der Drastik, von der diese geprägt sind, sondern weiß seine keineswegs leichte Geschichte auch in einer sehr zugänglichen, klaren, auffällig einfühlsamen Sprache zu vermitteln, die besagter Lebenswelt seiner Figuren perfekt angepasst ist. Eben ruppig-derb dort, wo es ruppig und derb zugeht, zart, behutsam und zurückgenommen da, wo wenige, viel zu seltene Momente der Zartheit oder gar Lebensfreude erblühen. Und wenn diese nur in der Erinnerung stattfinden.

Unter Auslassung von Klischees, falschem Pathos und unangebrachter Romantisierung entwickelt er so eine erstaunlich lebensecht ausgeleuchtete Milieu-Geschichte, die dem Lesenden in ihrer aufklärenden Schonungslosigkeit sicher auch so manch schmerzhaften Lesemoment bereitet, dabei aber ein solch gelungenes Stück Erzählliteratur ist, dass man den „Sandler“ einfach nicht missen sollte.