Lesestoff für die Dunkelzeit

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Mit dem neuerlichen bundesweiten Lockdown (›light‹) ist der Zugang zu kulturellen Angeboten außerhalb der eigenen vier Wände erneut empfindlich eingeschränkt worden – ein Umstand, der das Buch noch mehr als sonst in der dunklen Jahreszeit zu einer willkommenen Alternative werden lässt. Bei der Qual der Wahl der passenden Lektüre stehen wir natürlich gern hilfreich zur Seite — mit Büchertipps zu aktuellen Neuerscheinungen. Heute:

Marie-Claire Blais: »Drei Nächte, drei Tage«

Wenn lesen durstig macht

Marie-Claire Blais. „Drei Nächte, drei Tage“, Suhrkamp Verlag, 400 Seiten (geb.)

Sie sind beide kanadische Schriftstellerinnen, nahezu gleichalt, voller Bewunderung für die Werke der jeweils anderen und auch hinsichtlich der Liste an bisherigen Publikationen mehr oder weniger gleichauf. Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Margaret Atwood (geb.1939) und Marie-Claire Blais (geb. 1940): Erstgenannte kennt man auch auf dem deutschen Büchermarkt, ja zählt neben der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro wahrscheinlich zu den bekanntesten kanadischen AutorInnen überhaupt, Blais hingegen hat hierzulande bis auf eine Romanveröffentlichung in den sechziger Jahren noch gar keine Spuren hinterlassen. Diesen unwürdigen Umstand zu ändern, daran hat sich nun der Suhrkamp Verlag gemacht und für den Anfang mit „Drei Nächte, drei Tage“ aus dem Jahr 1995 ein Werk auserkoren, das für alle, die es sich zu lesen trauen, eine tiefgründige Leseerfahrung bereithält.

Tatsächlich muss man sich ‘trauen‘ und ein gutes Stück überwinden, diesen an der Textoberfläche etwas unnahbar geratenen Roman an sich heranzulassen: Vierhundert Seiten Text ohne Absatz, ohne Kapitel, ohne Halt und Rast lassen sich mit gängigen Leseerfahrungen nur schwer vereinen. – Nach zehn Seiten der erste Punkt, auf die Gesamtlänge des Textes kaum mehr als zwanzig (!) haltgebende, im kommagetakteten, endlosen Wortfluss geradezu überraschend auftauchende, tatsächliche Satzenden. Zweifellos eine Meisterleistung des modernen Erzählens, deren Notwendigkeit im ersten Eindruck fragwürdig erscheint – und sich dann doch, wenn man die Scheu vor dem ewigen Wortfluss überwunden hat, als absolut unerlässlich für die Wirkung und das ‘Funktionieren‘ dieses großartigen polyfonen Romans erweist, der mit seiner zurückgehaltenen Handlung im Grunde mehr fließende Zustandsbeschreibung als fortlaufende Geschichte ist:

Auf einer von tropischer Hitze geprägten, idyllischen, aber namenlosen Insel irgendwo im Golf von Mexiko leben manche Menschen in Reichtum, andere in extremer Armut. Ein Fest soll stattfinden – anlässlich der Geburt eines Kindes und irgendwie auch anlässlich der nahenden Jahrtausendwende – und ein schillerndes Ensemble an Charakteren nimmt hierfür Aufstellung: Künstler, Drag-Queens, Ku-Klux-Klan-Mitglieder, spielende Kinder, Geflüchtete der benachbarten Inseln und Renata, heimliches personales Zentrum des Romans, die sich als Anwältin für die Belange straffälliger Jugendlicher einsetzt, aber wie alle anderen Inselbewohner von einer inneren Zerrissenheit, einer fiebrig anmutenden Unruhe und Sehnsucht befallen ist – über die „Drei Nächte, drei Tage“ in einer multiperspektivischen, ineinander übergehenden und zwischeneinander wechselnden Innenschau aller Figuren erzählerisch Auskunft gibt. Es ist sozusagen ein vielstimmiger Chor, der aus dem ewigen Textfluss dieses Buch hervortönt und dessen Figuren-Ensemble mit jeweils eigenen Geschichten, Fragen und Befindlichkeiten zu Lust und Begehren, Krankheit und Tod, zu Macht, Missbrauch, Verantwortung und Gerechtigkeit in den Vordergrund drängt. Diesen beherrschen sie dann für einen Moment lang, bevor sie wieder in den Schatten zurücktreten und dem nächsten das Wort überlassen.

All dies, das Fest und den immerzu-immerfort zwischen Orten, Szenen und Zeiten wechselnden Figurenreigen koordiniert Marie-Claire Blais mit beeindruckendem Geschick und herausragendem Erzähltalent. „Drei Nächte, drei Tage“ beschenkt uns in diesem Sinne daher nicht nur mit dem hitzeflirrenden, irgendwie barock anmutendem, Großporträt eines tropischen Inselkollektivs, das kontinuierlich zwischen völliger Hingabe und Verzweiflung zu pendeln scheint, sondern auch mit einem Leseerlebnis, das im wahrsten Sinne des Wortes zugleich erschöpft und beglückt – und definitiv Lust darauf macht, mehr von dieser besonderen Autorin zu lesen.