Winterzeit ist bekanntlich Lesezeit. Ein behagliches Plätzchen, eine Kanne warmen Tee und ein gutes Buch – mehr braucht es häufig nicht, um es sich in der dunklen Jahreszeit gut gehen zu lassen. Grund genug, Sie hier zusätzlich zu den allmonatigen Büchertipps unserer Printausgabe noch mit ein paar zusätzlichen Leseempfehlungen zu versorgen.
Harlems Sound der Siebziger: Colson Whiteheads „Die Regeln des Spiels“
An Colson Whitehead kommt man derzeit nicht vorbei – zumindest sobald es um zeitgenössische amerikanische Literatur geht. Zweifacher Pulitzer-Preisträger, Autor von Meilensteinen-Romanen wie „Die Fahrstuhlinspektorin“ (1999), „Underground Railroad“ (2017) oder „Die Nickel Boys“ (2019), seit Jahren schon jede seiner Neuerscheinungen ein großer Wurf. Was Whitehead insbesondere und eigentlich jeden seiner Romane ausmacht, ist die Art und Weise, wie er einen ganz ureigenen Erzählsound mit virtuos entworfenen Geschichten und sehr lebendig gezeichneten Figuren vereint, mit seinen Erzählungen immer wieder aufs Neue einen ausgemachten Lesesog erzeugt – jedem Lesenden also ein Geschenk bereitet.
In seinem jüngsten Roman „Die Regeln des Spiels“ nimmt „Amerikas Geschichtenerzähler“, zu dem ihn das Times Magazine vor einigen Jahren machte, einmal mehr in New Yorks berühmtestes Viertel zurück. Ray Carney, kleinkrimineller Möbelgeschäftsinhaber, den Colson Whitehead-Leser schon aus der Sechzigerjahre Gangsterkomödie „Harlem Shuffle“ (2021) kennen, tritt auch hier wieder als Hauptfigur in Erscheinung – inmitten eines New Yorks, das mittlerweile den Glanz der Siebziger Disco-Jahre verspürt, in dem es allerdings weiterhin beinahe ununterbrochen und an allen Ecken brodelt, sich Gangsterbanden wilder denn je Schießereien liefern, es ständig irgendwo brennt, die Black Liberation Army an allen Ecken zum bewaffneten Widerstand aufruft und irgendwie jeder, dem man begegnet, ein korrupter Schuft, ein nur auf seinen eigenen Vorteil bedachter Gauner ist – ja, man einfach gut daran tut, die vor Ort geltenden ‘Regeln des Spiels‘ zu kennen und zu leben, wenn man nicht auf der Strecke bleiben oder gleich untergehen will. Ray Carney jedenfalls will von all diesem Chaos nichts mehr wissen – quasi geläutert einfach nur noch seine Ruhe haben. Keine krummen Geschäfte mehr, keine Straßenkämpfe, kein unnötiger Blutzoll mehr und erst recht keine weitere Reifeprüfung. Nur noch Möbelgeschäft, Familie, innere Einkehr.
Natürlich deckt sich sein Wunsch nicht mit der Realität, muss Ray seine innere Emigration neuerlich aufschieben: Denn seine Tochter Mary möchte nichts sehnlicher, als beim Konzert der Jackson Five dabei zu sein. Das leider schon ausverkauft ist. Und an ihm ist es nun, ihr diesen Sehnsuchtswunsch zu erfüllen. Also wendet sich Ray doch noch einmal an einen seiner alten Kontakte: einen korrupten weißen Cop, im ‘Nebenberuf‘ Schutzgelderpresser, überdies einer, der überall im Viertel seine Finger im Spiel hat und, da ist Ray sich sicher, ihm sicher noch Tickets für die Jackson Five beschaffen kann. Nur erwartet dieser dafür natürlich auch eine Gegenleistung für seine Dienstleistung‘, Umsetzung sofort. Und so saugt es den Ruheständler, noch bevor der Tag alt geworden ist, geschwind wieder hinein in das ihm nur zu vertraute Wimmelbild der lokalen Unterwelt, muss er, Ray, einmal mehr zum Teilhaber unbändiger Prügeleien und Schießereien auf den Straßen Harlems werden – und wir zu Zeugen einer wilden, actionreichen, immer wieder auch von komischen, mitunter sogar überbordend lustigen Momenten getragenen Hardboiled fiction-Krimigeschichte – eingebettet in ein zwielichtiges Siebzigerjahre-New York-Flair, wie es in dieser pulsierend-aufgekratzten Form nur Colson Whitehead zu entfalten imstand ist. Ein Roman mit hohem Unterhaltungswert, der nicht nur Lesespaß, sondern auch jede Menge Vorfreude bereitet: auf den bald folgenden dritten Teil, in dem wir Ray Carney dann ins New York der Achtzigerjahre begleiten dürfen.
Colson Whitehead: „Die Regeln des Spiels“Hanser, 384 Seiten (geb.)